Ruf der Vergangenheit
Die letzten Wochen und Monate waren so unglaublich anstrengend gewesen und sie wusste nicht einmal, was es war, das ihr alle Kräfte zu nehmen schien. Hinzu kam, dass sie morgens auch nicht ausgeruht aufwachte, denn ihre Träume raubten ihr den Schlaf. Teilweise wachte sie schweißgebadet auf und fand nicht mehr in den Schlaf zurück – fast, als hätte sie Angst davor einzuschlafen. Und dass sie sich nicht mehr an diese Träume erinnern konnte, das beschäftigte sie zusätzlich. Also beschloss sie, dorthin zu fahren, wo sie sich immer wohl gefühlt und auch immer Ruhe gefunden hatte: an den Ort ihrer Kindheit.Warum war sie eigentlich all die Jahre nicht mehr dort gewesen? Diese Frage ging ihr immer wieder mal durch den Kopf. Aber die Gedanken daran verdrängte sie jedes Mal sehr schnell. Eine Erinnerung, die sie lähmte, die sie jedoch nicht greifen konnte, kam in ihr hoch.
Dennoch fuhr sie los.
Tief einatmend und diesen frischen Duft in sich aufnehmend ging sie durch ihren geliebten Wald.
Als Kind und auch noch als junges Mädchen war sie so oft hier gewesen. Immer wenn sie etwas beschäftigt hatte oder sie sehr traurig war, war sie hierhergekommen. Es war, als würden die Bäume sie trösten, die Blätter ihr liebevoll zuflüstern und der Wind ihr zärtlich durchs Haar streicheln.
Wenn sie an diese Zeit zurück dachte, kamen ihr die ganzen Geschichten in den Sinn, die sich selbst erzählt hatte. Geschichten von Elfen, Einhörnern und auch Waldgnomen. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht, als sie an ihre kindlichen Phantasien von damals dachte.
Sie war so in die Vergangenheit versunken, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie es langsam dunkler wurde. Seit Stunden war sie bereits unterwegs und sie hatte die Zeit und wie es schien sogar ihre Umgebung vergessen. Etwas beunruhigt sah sie sich um. Diesen Teil des Waldes kannte sie gar nicht. Er schien ihr wilder und ursprünglicher zu sein als sie ihn in Erinnerung hatte.
Sie fröstelte. Eng zog sie ihre dünne Jacke um sich. Ein leichtes Prickeln in ihrem Nacken warnte sie, es war als würde sie beobachtet werden. Sie war nicht allein hier! Dieser Gedanke erschreckte sie und versetzte sie leicht in Panik. Ganz langsam drehte sie sich um.
Eine rasche Bewegung im Unterholz lenkte ihren Blick ins dichte Gehölz. Doch sie konnte nichts erkennen, lediglich einen hellen Umriss nahm sie wahr, aber dieser schien sich von ihr fortzubewegen. Sie traute ihren Augen nicht: ein weißes Pferd? Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie einen Gedanken wegwischen. Neugierig folgte sie diesem hellen Schatten. Und je weiter sie in den Wald hineinging, desto klarer konnte sie einen Weg erkennen, der sie immer tiefer in den Wald hinein führte.
Dann auf einmal schien sich der Wald zu teilen und eine Lichtung tat sich vor ihr auf. Das Pferd stand mitten auf dieser Lichtung. Es schien auf sie zu warten und sah sie an. Große, tiefblaue Augen sahen ihr vollkommen ruhig und abwartend entgegen. Und dann, sie traute ihren Augen nicht, erblickte sie das Horn auf der Stirn des edlen Tieres: ein Einhorn, es war kein Pferd, es war ein wunderschönes Einhorn. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. Das konnte doch nur ein Traum sein oder ihre Phantasie spielte ihr einen Streich.
„Du bist wieder da‘“ hörte sie eine leise Stimme. Suchend drehte sie sich um, konnte jedoch niemanden sehen, der mit ihr hätte sprechen können. Außer ihr gab es nur noch das Einhorn und das, das war doch nicht möglich. Ein Einhorn konnte doch nicht mit ihr reden. Leicht hysterisch hörte sie sich selbst auflachen. Sie sah ein Einhorn vor sich – wollte aber nicht glauben, dass es zu ihr sprach?
„Du erinnerst Dich nicht, richtig?“ Wieder erklang diese Stimme. Sie sah in die Richtung des Einhorns.
Und dann - ungläubig hielt sie den Atem an: Vor ihren Augen verwandelte sich das Einhorn in einen Menschen. Nein, das stimmte so gar nicht. Er war kein Mensch, er war zu filigran, zu anders. Schlagartig, als würde sie aus einem Traum erwachen, wusste sie, wer vor ihr stand. Er war der Prinz der Elfen. Er war ihr Spielgefährte aus Jugendzeiten.
Alte, längst vergessene Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Sie sah sie beide als Jugendliche miteinander durch die Wälder laufen, fröhlich lachend und Hand in Hand.
Verwirrt schaute sie ihn an und dann spürte sie ihre Tränen aufsteigen und langsam über ihre Wangen hinunterlaufen. Und sie erkannte, er war weit mehr als ihr Spielgefährte, er war ihr Geliebter aus vergangener Zeit.
Mit großen Augen starrte sie ihn an, ihr Herz schlug wie wild und ihr Puls raste. Schon wollte sie sich ihm freudig in die Arme werfen, als sie seinen traurigen und verletzten Blick bemerkte. Sie stockte und blieb wie angewurzelt stehen. Der letzte gemeinsame Tag kam in ihre Erinnerung.
Die Bilder der Vergangenheit holten sie ein.
Sie waren den ganzen Tag zusammen im Wald gewesen. Sie hatten Pläne geschmiedet, Pläne für ihre gemeinsame Zukunft, wohl wissend, dass sowohl ihre Eltern als auch sein Vater gegen diese Verbindung waren. Aber sie waren jung gewesen, oh so jung und noch so naiv. Sie hatten geglaubt, dass sie stärker seien als alles um sie herum, dass sie gemeinsam diesen Kampf gewinnen würden.
Lachend hatten sie im Gras gelegen, hier auf dieser Lichtung. Sanft hatte er ihr Gesicht in seine Hände genommen und sie so zärtlich geküsst. Langsam war die Leidenschaft zwischen Ihnen gewachsen, ihrer beider Hände auf dem Körper des anderen. Erkundend, suchend und schließlich auch gemeinsam die Erfüllung findend. Erschöpft, aber in vollkommener Befriedigung waren sie miteinander eingeschlafen.
Plötzlich jedoch wurden sie brutal aus ihren Träumen gerissen und geweckt. Erschrocken war sie hochgefahren, denn vor ihnen stand sein Vater. Der König der Elfen war außer sich vor Zorn und sah funkensprühend auf sie herab. Seine ganze Wut lag in diesen zusammengekniffenen Augen und er ließ sie spüren, dass sie gegen alle gültigen Regeln verstoßen hatten.
Wutentbrannt ließ der König der Elfen sie trennen. Beide sollten eine Strafe für diese unverzeihliche Vereinigung erhalten. Was auch immer mit ihrem Prinzen geschah, sie wusste es nicht. Denn sie wurde verbannt. Für immer verbannt. Getrennt von ihrem Liebsten, von ihrem Heim, von ihrer Zukunft.
Und jetzt stand er vor ihr. Sie brach zusammen. Das war einfach zu viel für sie. Sie hatte keine Kraft mehr, um sich all dem was jetzt gerade über sie hereinbrach zu stellen.
„Ich habe Dich gerufen.“ Hörte sie ihn mit sanfter Stimme sagen. „Seit Monaten habe ich Dich zu mir gerufen, in Deinen Träumen. Und ich hatte große Angst, dass Du meine Rufe nicht hörst.“ Ungläubig sah sie ihn an. „Ja“ sagte er, „denn Du gehörst zu mir, so wie ich zu Dir gehöre. So war es immer und so wird es von nun an auch bleiben.“