Nachtrag.....
.....einen Beitrag gelesen in der MAZ vom 11.06.3013 :
„DeMo”-Klassiker und „Delta Machine
66.000 Zuschauer bejubeln Depeche Mode im Olympiastadion in Berlin
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Dave Gahan
Berlin - Einen halben Ton liegt er daneben, ist das die Aufregung? „Welcome To My World“, das Titelstück des neuen Albums, verrutscht um Armeslänge, Dave Gahan singt es trotzdem laut und fordernd – denn in Berlin müssen sich stimmlich alle zunächst mal finden. Das Auftaktstück von einem Depeche-Mode-Konzert ist immer wie ein tiefer Schluck aus einer Flasche Schnaps: Hochprozentiges zum Runterkommen. Auch die Zuschauer vibrieren. „Dave“ schreien sie, und lösen ihren Kloß im Hals. Ein Konzert von Depeche Mode, dieser legendären Live-Band, gleicht einer Messe, vorher ist einem immer mulmig. Wenn man schrill „Dave“ ruft, lenkt das die Aufregung in produktive Bahnen.
Es liegt viel Spannung in der Luft: Liebe, Verehrung, Regen (bei Berliner Open Airs gehört das mittlerweile zum Naturgesetz) und Sex. Man muss sich eine Weile in die Augen schauen, die Band da oben und die Fans da unten, da rechts und links, gute 66000 Zuschauer sind ins ausverkaufte Olympiastadion gekommen. „Welcome To My World“ ist das Lied, welches den Bann bricht und die Fieberkurve senkt, runter auf eine Betriebstemperatur, mit der sich arbeiten lässt. Knapp zweieinhalb Stunden spielen Depeche Mode am Sonntag, ehrliche Arbeiterkinder sind sie noch immer.
Dave Gahan zieht die Jacke aus, läuft rum in dünner, feiner Weste, sein schmaler, sehniger Leib erzählt von einer Menge Sport und von der alten Zeit mit noch mehr Drogen. Er wagt die erste Pirouetten, wackelt mit dem Po. Das sind Fakten, die zählen. Und nun sitzt auch die Stimme.
Sie spielen „Personal Jesus“, die erste Strophe derart meditativ, wie es Johnny Cash getan hat, auf seine alten Tage, unter der Regie von Rick Rubin. Dennoch rutscht das Lied ins Treibende und ins Laszive, Dave Gahan nämlich braucht nur einen Hüftschwung, einen Hieb mit dem Mikroständer, um allen bürgerlichen Anstand, alle Prüderie hinfortzuspülen. Er simuliert den Beischlaf. Tut es derart stilvoll, keuchend und doch sittsam, dass sich niemand darüber beklagt. Er tut es unter dem tarnenden Mäntelchen der hohen Kunst, tanzt Ballett, die Stoßrichtung aber ist klar.
Depeche Mode spielen knapp ein halbes Dutzend Lieder aus ihrem aktuellen, ambitionierten Album „Delta Machine“, mit dem nicht jeder glücklich ist. Gerade die frühen Fans wittern hier einen Kunstwillen, der nicht vereinbar scheint mit dem Ingenieurssound aus den 80ern. Eben die Maschinenmusik in der Manier von „Everything Counts“ oder „People Are People“ hat wohl die Liebe der Deutschen zu Depeche Mode begründet. Die Deutschen verstehen etwas vom Maschinenbau, ihre Ingenieursseele macht sie zu den treuesten Fans dieser Briten, die Lieder schreiben, denen der laute Blues aus einer Produktionshalle von Audi, Bosch und Daimler in den Knochen steckt.
Auch in Berlin winken die Leute mit den Amen, wie im Konzertfilm „101“ von D.A.Pennebaker, aufgenommen auf der Welttournee „Music For The Masses“ 1988. Dave Gahan erzählte damals, mit Tränen in den Augen, als 70000 Menschen ihre Armen schwenkten und „Everything Counts In Large Amounts“ sangen: „Ich stand einfach da auf dem Podest, und die Leute sahen aus wie ein riesiges Maisfeld, das sich im Wind wiegt. Ich brauchte nicht mehr zu singen, alles passierte von selbst.“
Dieses Händewerfen zählt zum Ritual in den Konzerten der Band, auch, als Martin Gore fast zart ans Mikrofon tritt und eine verkehrsberuhigte Episode dieses Abends einläutet. Dave Gahan macht Rast hinter der Bühne. „Higher Love“, dann „But Not Tonight“ singt Gore, er besingt den Regen. Eben dieser Gore hat die Band auf ein neues Level gehoben, fort vom Bild der leichtgewichtigen Teenie-Popper, denen Vince Clarke, der Hauptsongwriter, in den frühen 80ern abhanden kam. Das hat Depeche Mode angestachelt – Gore hat Melodien geschrieben, die erwachsen klingen, und ihnen kapitalismuskritische Texte beigegeben, die selbst den englischen „New Musical Express“ überzeugten. Gut, mitunter klingen sie holzschnittartig. Aber ihre Poesie wiegt vieles auf.
Auf der Leinwand die Schwarz-Weiß-Ästhetik von Anton Corbijn, dem Bandfotografen: Bilder mit Hut, als kämen sie aus einem alten Western. Später zieht Gahan die Weste aus. Er tanzt mit nacktem Oberkörper. Ein großer Abend, und dennoch nahezu intim. (Von Lars Grote)