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10 Fragen an eine Intimitätskoordinatorin beim Film

Sittenwächterin, Sex-Choreografin oder Vermittlerin?

Intimacy Coordinator heißt der noch junge Beruf, den Paulita Pappel mit ihrer Arbeit für Netflix und Amazon in Deutschland etabliert. Was genau macht eine Intimitätskoordinatorin? Warum braucht es den Beruf? Und wie sind die Reaktionen in der Filmbranche?

Interview von Alex Todorov mit Paulita Pappel

1. Was machst du als Intimacy Coordinator?

Der Beruf etabliert sich aktuell vor allem in der Filmindustrie, zunehmend auch in Deutschland. Es geht hierbei nicht um Pornofilme, sondern Mainstream. Ich arbeite dabei mit allen Menschen zusammen, die an einer intimen Szene beteiligt sind, in erster Linie die Regie und die Schauspieler:innen.

Intim heißt: Immer da, wo eine Szene für die Schauspieler:innen eine intensive emotionale, intime Herausforderung darstellt, die sie in eine besonders verletzliche Position bringt. Das fängt bei Berührungen an und geht über Küssen und Nacktheit hin zu Sexszenen. Ich ermögliche einen sicheren Arbeitsrahmen, um eine intime Szene bestmöglich zu drehen.

2. Heißt Intimacy Coordination, dass Sexszenen künftig braver werden?

Ganz im Gegenteil. Intimitätskoordination heißt, dass es endlich ein Arbeitsumfeld am Set gibt, das es Schauspieler:innen ermöglicht, sich zu entspannen und dadurch weiter gehen zu können als bisher. Es geht zum einen darum, stets Konsens herzustellen, zum anderen darum, darauf zu achten, dass Sexszenen sich nicht nur an Klischees abarbeiten, sondern Sexualität abbilden, wie sie wirklich ist. Beispielsweise diverser.

Sexpositiv & feministisch

3. An welchem Punkt kommst du an Bord? Was machst du genau am Set oder im Hintergrund?

Die Arbeit beginnt idealerweise schon in der Vorproduktion – ich lese das Drehbuch und verschaffe mir einen Eindruck von den intimen Szenen. Für das Casting ist es wichtig, dass bei allen Rollenbeschreibungen präzise Angaben diesbezüglich weitergegeben werden, damit alle wissen, was auf sie zukommt. In der Vorproduktion spreche ich mit Produktion und Regie sowie einzeln mit allen Schauspieler:innen.

Wir proben die Szenen, die Regie legt fest, was beim Dreh letztendlich zu sehen sein soll. Ich halte sämtliche Absprachen und gegebenenfalls die Choreographie fest. Später am Set sorge ich dafür, dass die Kommunikation weiterhin transparent und fair bleibt, dass Absprachen eingehalten werden. Bei nötigen Änderungen leite ich die Gespräche und biete sowohl der Regie als auch den Schauspieler:innen Alternativen an.

4. Wie lange gibt es den Beruf schon? Wie ist er entstanden?

Intimitätskoordination gibt es in der jetzigen Form erst seit zwei Jahren. Nach dem #metoo-Skandal entwickelten sich dafür rasch Initiativen in den USA und Großbritannien. Auch im deutschsprachigen Raum ist dieser Kulturwandel angekommen, der Machtstrukturen reflektiert und neue, faire Verhältnisse fördert. Die Filmindustrie ist extrem hierarchisch und Übergriffe und Machtausnutzung sind leider alltäglich – wie überall, wo es prekäre Arbeitsverhältnisse gibt. Und die gibt es en masse beim Film.

Paulita Pappel im Stress am Filmset.
Paulita Pappel im Stress am Filmset.
 

5. Wie bist du zur Intimacy Coordination gekommen?

Über Bekannte in den USA, die sich zum Intimacy Coordinator ausbilden ließen. Ich habe mich eingehender damit beschäftigt und bald festgestellt, dass das alle meine Qualifikationen und Arbeitserfahrungen einigt. Als hätte ich mich mein ganzes Leben lang für diesen Beruf ausbilden lassen!

Ich habe als Darstellerin in Porno-, Spiel- und Dokumentarfilmen sowie beim Theater mitgewirkt, ich war Casting-Direktorin, habe als Produzentin No-Budget- sowie hochbudgetierte Projekte begleitet, und als Regieassistenz und Regisseurin gearbeitet.

Obendrein habe ich mich schon lange mit Feminismus auseinandergesetzt und mich in den Themen Anti-Sexismus, Anti-Rassismus und Anti-Homo- und Transphobie weitergebildet. Dieses Spektrum an Erfahrungen und Wissen bildet die Grundlage für eine Intimitätskoordination; ich muss alle involvierten Positionen einer Filmproduktion hören und verstehen, um dabei zu helfen, Einvernehmlichkeit herzustellen.

Das waren keine gespielten Vergewaltigungsszenen, das war eine Vergewaltigung vor laufender Kamera.

6. Welche Filme fallen dir ein, bei denen du heute denkst: Da hätte es unbedingt Intimacy Coordination gebraucht?

Abgesehen von eigenen Erfahrungen als Darstellerin leider mehr als genug. "Der letzte Tango in Paris" von Bernardo Bertolucci oder "El Topo" von Alejandro Jodorowsky, das sind alles Filme, über die wir heute wissen: Das waren keine gespielten Vergewaltigungsszenen, das war eine Vergewaltigung vor laufender Kamera.

Bei Filmen wie "Basic Instinct", "9 1/2 Wochen" oder "50 Shades of Grey" wäre auch eine Intimitätskoordination von Nutzen gewesen – dann wären die Sexszenen weniger klischeebehaftet und Kommunikation und Konsens bei BDSM besser dargestellt.

Vielfältige Intimität

7. Du arbeitest für Netflix, TVNOW und auch Amazon. Wie wird dieser neue Beruf denn von den Beteiligten aufgenommen? Spürst du möglicherweise unterschiedliche Feedbacks von Frauen und Männern?

Die Reaktionen sind extrem unterschiedlich. Sie sind gar nicht so sehr von den Geschlechtern abhängig als vielmehr von der Arbeits- wie Machtposition und dem Status. Je höher die Machtposition am Set, desto mehr skeptische bis aggressive Reaktionen, wobei das von Projekt zu Projekt wirklich sehr unterschiedlich ist.

Es gibt leider Menschen in der Industrie, die lieber mit Manipulation als mit Schauspielkunst arbeiten, und die fühlen sich angegriffen, weil sie ihre Arbeit bedroht sehen.

Es gibt zum Glück aber auch wichtige und mächtige Menschen in der Industrie, die diesen Kulturwandel vorantreiben wollen, so dass der Fortschritt nicht mehr aufzuhalten ist.

8. Welcher Teil deiner Arbeit gibt dir am meisten?

Die Filmindustrie hat einen sehr großen Einfluss, wie wir Sexualität wahrnehmen und verstehen. Die meisten Filme, Fernsehprogramme und Mainstream-Medien zeigen ein verzerrtes Bild von Sex, durchdrungen von sexistischen und rassistischen Stereotypen.

Ich freue mich, wenn ich Regisseur:innen dabei unterstützen kann, Sexszenen zu inszenieren, die nah an ihren Geschichten und den Figuren sind, anstatt Klischees zu reproduzieren. Eine Sexszene erzählt uns etwas von der Figur, von den Beziehungen der Charaktere zueinander, sie erfüllt keinen Selbstzweck, sondern hat ein riesiges Erzählpotential. Das fasziniert mich.

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9. Was wünschst du dir für die Zukunft des Berufs?

Ich wünsche mir, dass die Arbeit mit Intimitätskoordination zum Standard wird. Und dass daraus viel diversere Filme mit unterschiedlichen Körpern, Begehren, Sexualitäten und Praktiken entstehen.

In Deutschland ist die UFA in Sachen Intimacy Coordination sehr weit vorne, auch US-Produktionen wie Netflix und Amazon haben schon etablierte Standards. Bei kleineren Produktionen ist oft der Wille da, aber nicht das Geld. Denn das muss natürlich von den Förderanstalten mitfinanziert werden.

10. Was lässt sich aus Intimacy Coordinations für private intime Begegnungen lernen? Was hast du für dich mitgenommen?

Die Übung an offener und ehrlicher Kommunikation ist ein Geschenk. Einvernehmlichkeit ist eine Praxis, die im Privatleben für bessere Begegnungen, besseren Sex und nicht zuletzt bessere psychologische Gesundheit sorgt. Ich lege es jedem und jeder ans Herz.


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Über Paulita Pappel

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Paulita Pappel ist 1987 in Madrid geboren und lebt in Berlin. Sie arbeitet als Regisseurin und Produzentin von Pornofilmen und ist Gründerin der Pornofilm-Plattformen Lustery und Hardwerk. Zwei ihrer Filme gibt es in der JOYclub-Mediathek.
 

Sie ist Mitorganisatorin des Pornfilmfestivals Berlin. Abseits des Pornosegments ist sie im deutschsprachigen Raum als Intimacy Coordinator u.a. für Netflix und Amazon tätig.

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