Das Lächeln auf dem Display meiner elektrischen Zahnbürste war seit langem der letzte Augenblick von Glück und Erfüllung gewesen, der sich mir offenbarte. Ich gab mir bei jedem Zähne putzen mühe, sogar zu sehen, wie die Augen anfingen wie kleine Sterne auszusehen, für besonders gutes Zähneputzen. Ein Tag ohne ihr Lächeln war ein Tag, der nicht gut anfing.
Es war viel zu lange her, dass ich diesen Kick gespürt hatte, der sich einstellt, wenn sich ein Mensch öffnet. So wie ein neues Buch. Man lernt jemanden kennen und sieht die Verpackung, vielleicht lagen viele Bücher auf dem Stapel und ich nehme dann immer bewusst eines, das noch jungfräulich ist. Noch mit diesem weichen Plastik eingepackt, in dem noch keine Hände die Seiten berührt haben. Dann kommt der Moment, in dem dieser Plastikfilm das Entdecken des Inhaltes stört. Zwar habe ich die Beschreibung auf der Rückseite gesehen, aber die sagt nicht viel aus. Genau wie beim Kennenlernen eines Menschen ist es jetzt Zeit, das erste, äussere, Bild zu ergänzen mit Erkenntnis um den Inhalt.
Diese Analogie gefällt mir. Ich habe schon wunderbare Bücher auf wunderbarem Papier gelesen. Aber genau so las ich schon wunderbare Bücher auf billigem, dünnem Papier, bei dem ich beim Umblättern immer Angst hatte, die Seiten zu zerreissen. Einige Male ist das auch geschehen, kleine Risse in diesen dünnen Seiten sind Zeichen unserer Beziehung geworden. Wer sich näher kommt, verletzt sich manchmal, das bleibt nicht aus. Aber die Risse haben sich gelohnt, denn wäre ich nicht begeistert und neugieriger Leser gewesen, hätte ich mir die Mühe des Umblätterns gar nicht erst gemacht. Ich wäre weniger stürmisch gewesen.
Das Material, das Layout, die Präsentation, eines Buches spielen definitiv eine Rolle - aber sie sind nicht alles. In dem minimalistischen Design von Reclam-Heften verbergen sich manchmal wahre Schätze, die fesselnd sind, mich nicht mehr loslassen.
Genau wie bei Menschen. Das Äussere spielt eine Rolle, aber wenn sich die Seele ein wenig öffnet und der erste gute Eindruck, die erste Neugier, nicht mit spannenden Erkenntnissen über das Wesen und seine Lust ergänzt werden, dann geht es mir wie bei Büchern. Ich lese die ersten Seiten sehr intensiv, genau so, wie ich Menschen sehr intensiv kennenlerne, manchmal über Monate. Wenn dann aber die Spannungskurve abflacht, dann schliesse ich das Buch und lege es sanft zurück ins Regal.
Andererseits, wenn mich die Geschicht in ihren Bann zieht, sich in meinem Kopf Landschaften, Menschen, Fabelwesen und Situationen abbilden, spielt Zeit keine Rolle mehr. Ich werde nie vergessen, wie ich in sehr jungen Jahren den Herrn der Ring las. Die Szene, in der Frodo und seine Gefährten sich im Wald vor den Nazgûl versteckten, nahm mich völlig in den Bann und hat bis heute, Jahrzehnte später, nichts von ihrer Dramatik eingebüsst. Und das in einem Buch, das sich vor allem etwas zähl las, wenn ich mich richtig erinnere.
In letzter Zeit stellte ich viele Bücher wieder zurück ins Regal. Manchmal war mir sogar die Lust vergangen, sie auf mich wirken zu lassen und überhaupt erst eines in die Hand zu nehmen.
Nicht, dass ich keine Lust hätte, mein Testosteronspiegel nicht hoch genug wäre oder eine altersangemessene Erektionsschwäche eingesetzt hätte. Im Gegenteil. Morgens, wenn der Körper sich die volle Ladung Testosteron gönnte, genoss ich das Gefühl der Härte und des Gewichts meines Schwanzes in meiner Hand, liess meiner Fantasie freien Lauf und ging gestärkt, um einen Orgasmus im Leben reicher - manchmal auch zwei oder drei - in den Tag.
Aber es fehlte etwas, ich war auf der Suche und gleichzeitig zu faul zum Suchen. Ich installierte Tinder und war schockiert von der Anzahl der Fakes. Früher hatte jede Installation von Tinder zu ein oder zwei kleinen Fickgeschichten geführt, aber heute waren es die Fakes, die micht stören, die Chats, in denen wenig sinnvolles rüberkam oder der Körper meines Matches. Wie gesagt, Buch, Aussenseite, Umschlag - auf mehr als eine nette Unterhaltung hatte ich schlichtweg keine Lust, wenn Gewicht und Grösse die Marke von 25 im BMI weit überschritten.
Vielleicht war es ein Akt der Verzweiflung, aber ich verbrachte viel Zeit im Joyclub. Besonders die Berichte, Bilder und Profile der Paare, bei denen es der Mann genoss, seine Frau zu teilen oder sie in fremden Händen zu wissen, erregten mich. Ich konnte es nachvollziehen, wie erregend es für einen Mann sein kann, seine Frau beim Sex mit einem anderen zu sehen oder zu wissen. Meine Vermutung ist, dass es vor allem die Sexualität der Frau ist, die dadurch an Wert gewinnt - sie wird attraktiver, weil andere sie begehren. Für einige mag das Gefühl der Erniedrigung wichtig sein, aber ich glaube eher daran, dass es eine Aufwertung der Partnerin ist, sie durch das Fremdficken begehrenswerter wird - bis zu dem Punkt, an dem „er“ gar nicht mehr ran darf, sondern nur noch zu schaut.
Nur interessiert mich die Seite des teilenden Mannes kein Stück. Mich macht es an, mir vorzustellen, mit der fremden Frau zu spielen. Zuzusehen, wie er zusieht. Zu erleben, wie sie auf das Spiel reagiert und wie sie sich anfühlt, sie dazu zu bekommen, dass sie Dinge für mich tut, nach denen er noch nie gefragt hat - Grenzen zu überschreiten in dem Wissen, dass die Grenzüberschreitung Lust auslöst, bei allen Beteiligten.
Ich scannte regelmässig die neuen Mitglieder dieser Gruppen und stellte mir vor, mit ihnen Sex zu haben. Und irgendwann sass ich hier auf meiner kleinen Terrasse und dachte mir - warum eigentlich nicht? Im schlechtesten Fall wird aus dem Date eine kleine Geschichte, im besten Fall - meldet sich tatsächlich jemand.