Frühling in Berlin (III) - Kein Spaziergang!
Was für ein Glück: blauer Himmel über Kreuzberg und strahlender Sonnenschein! Es ist zwölf Uhr mittags und wenige Grade über Null, als ich das Haus verlasse, um mich in Richtung Ku´damm aufzumachen. Shopping ist angesagt, ob der plötzlich so frostigen Temperaturen muss die Wintergarderobe aufgestockt werden. Einkaufen ist nicht gerade eines meiner Lieblingshobbys, aber heute freue ich mich ein bisschen darauf, langsam durch die lange, breite Shoppingmeile zu flanieren, den Blick wandern zu lassen im Sonnenschein, ab und zu anzuhalten, um einen Kaffee auf Berlins traditionsreichster Einkaufsstraße zu genießen und vielleicht ein paar Worte ins knallbunte To-Go-Büchlein zu kritzeln. Das hat doch was! Und es ist richtig lange her, dass ich zuletzt auf dem Kurfürstendamm war.
Die erste Überraschung erlebe ich, als ich mich meinem Auto nähere: Da liegt ein Formular auf dem Beifahrersitz. Ich erkenne das Wort „Strafanzeige“ und ahne Böses, frage mich aber, wie es die Polizei geschafft hat, dieses Stück Papier in mein Auto zu legen. Während ich noch grüble, ob ich vielleicht doch vergessen haben könnte, die Fenster ganz zu schließen, gehe ich um mein kleines, schwarzes Auto herum und erleide einen mittleren Schock: Wo vorher das Fenster der Fahrertür war, hat jemand einen dunklen Müllsack sorgfältig mit Klebeband um den Türrahmen befestigt. Der zweckentfremdete Plastiksack bauscht sich im Wind und ich stehe da, wie vom Donner gerührt. Es dauert mehrere Sekunden, bis ich realisiere, was passiert ist: Die Scheibe wurde eingeschlagen. Unter mir auf dem Parkplatz sehe ich die Überreste: viele kleine, vollkommen gleichmäßige, grünliche Glassplitter. Sie sind überall, auf der Straße und im ganzen Auto verteilt, türmen sich auf den Sitzen, stecken in allen Ecken und Ritzen. Als ich versuche, das Gröbste an Glas zu entfernen, schneide ich mich prompt in die Hand. Der scharfe Schmerz und das Blut, das aus meinem Finger schießt, bringen mich ein wenig zur Besinnung.
Mehrere Gedanken schießen gleichzeitig durch meinen Kopf. Neben der rethorischen „Warum ich?“-Frage denke ich an Autoverglasung und an meine Versicherung. Auf dem Formular der Polizei ist eine Telefonnummer angegeben. Ich spüre Dankbarkeit, dass die Beamten mein nacktes, bloßes Auto mit einer Plane bedeckt haben und muss schlucken. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte ich einen Unfall, auf der Autobahn. Wieso passiert mir das, wieso schon wieder? Was habe ich getan? Meine Kehle wird mir wieder eng. Tief durchatmen!
Ich sehe mich um, mein Blick fällt auf ein kleines Café ein paar Häuser weiter. Gut, ein Kaffee wäre vielleicht jetzt nicht verkehrt. Mit dem Becher in der Hand sinke ich auf eine Bank neben dem Parkplatz, zücke das Handy. Keine meiner besten Freundinnen ist erreichbar, sie arbeiten, klar. Ich rufe die Polizei an, und die Versicherung. Als ich die nächste Autoglas-Reperatur-Werkstatt anrufe, komme ich zu einer Hotline, die in Bonn sitzt. Ich kämpfe mit den Tränen, als ich versuche, zu erklären, in welcher Situation ich gerade bin. Okay, ich brauche die Versicherungskarte, und einen Handkehrer, so kann ich mich nicht ins Auto setzen! Ich hetze zurück in die Wohnung, drehe ich mich planlos um die eigene Achse und breche in Tränen aus. Endlich erreiche ich eine meiner Freundinnen. Sie ist besorgt und versucht, mich zu trösten. Allein der Klang ihrer Stimme ist tröstlich und bringt mich in die Realität zurück.
Viel später habe ich meine Fassung wiedergewonnen und den Impuls nieder gerungen, jetzt und sofort zurück nachhause in den Südwesten zu fahren. Die Scherben entferne ich notdürftig und mache mich auf dem Weg durch die Stadt zur Autoverglasung. Den Termin für eine neue Verglasung habe ich erst in zwei Tagen, weil die Scheibe bestellt werden muss, aber darüber kann ich im Moment nicht weiter nachdenken. Ich funktioniere einfach, und navigiere durch die Stadt, jedoch ohne Navi. Das fällt mir jetzt erst auf: Das Navi ist weg! Kann das der Grund dafür sein, dass jemand eine Autoscheibe zertrümmert? Wegen eines kleinen, billigen Navigationssystems, das gerade mal etwas über 100 Euro gekostet hat? Ich will es nicht recht glauben, doch ich bin in Berlin und die soziale Schere klafft hier sehr viel tiefer und weiter auseinander als in jeder anderen Stadt Deutschlands. Der Kottbusser Damm mit seinem ganzem menschlichen Elend ist nicht weit, genau genommen um die Ecke. Im kleinen Park an der Schönleinstraße sehe ich jeden Tag ausgezehrte Gestalten und Obdachlose, die ihr Hab und Gut im Einkaufswagen hinter sich herziehen.
Reiß dich zusammen, ermahne ich mich selbst, eine eingeschlagene Autoscheibe ist nicht das Ende der Welt. Es kostet mich jede Menge Konzentration, mein Auto durch den dichten Verkehr zu schleusen. Ich fahre am Reichpietschufer entlang, fädele mich zum Abbiegen nach links ein, verpasse aber die Abfahrt zur Potsdamer Straße. Auf die letzten Meter werde ich auch noch geblitzt – verdammt! Als ob es nicht schon reichen würde für heute! An der nächsten Möglichkeit wende ich und mache einen neuen Versuch, fahre langsam auf der rechten Seite, suchend, den Blinker schon gesetzt. Hinter mir hupt ein ungeduldiger Taxifahrer: Immer diese Touristen! Endlich erkenne ich das Schild der Autoverglasungsfirma, doch wo ist die Einfahrt? Ich drehe noch eine Runde und sehe dann das unscheinbare Zugangstor, fahre schnell hoch auf den Gehsteig. Als ich die Handbremse ziehe, schießt mir erneut das Adrenalin durch den Körper und mir zittern die Knie, als ich aussteige.
Ein Mann um die 40, mit milchkaffeefarbenem Teint und Nerdbrille, einen Kaffeebecher in der Rechten, ist stehengeblieben, als mein Auto einen Meter vor ihm zum Halten kommt. Er scheint sofort zu erfassen, dass irgendetwas mit mir nicht stimmt. Mein Gesicht spiegelt ihm den Schock, in dem ich mich befinde. Er kommt ein paar Schritte auf mich zu, spricht mich an: „Geht´s Ihnen gut? Eher nicht, oder?“ Ich starre ihn an, betrachte sein ausdrucksvolles Gesicht, ohne es richtig wahr zu nehmen, und schüttle langsam den Kopf, auch wenn mein Gesichtsausdruck mich Lügen straft. Er fragt nach: „Hatten Sie einen Unfall?“ Ich schüttle wieder den Kopf, erzähle ihm dann stockend, dass mein Autofenster eingeworfen wurde. Er wirkt sehr betroffen und sieht mich aus dunkelbraunen Augen so mitfühlend an, als er würde mich am liebsten in die Arme schließen. „Was heutzutage alles hier passiert, es ist zu verrückt. Tut mir wirklich leid für Sie.“ Es ist reiner Selbstschutz, dass ich ihn nur wortlos anschaue und nicke, weil ich sonst in Tränen ausbrechen würde. Ich versuche ein Lächeln, das gründlich misslingt, hebe beschwichtigend die Hände. Die Situation überfordert mich völlig, ich kann nicht mehr angemessen reagieren, nicht einmal auf diese überaus anrührende Geste.
In dem Büro der Autoverglasung warten schon einige Kunden. Endlich allein auf der Toilette, fließen die Tränen. Die liebevolle Anteilnahme eines völlig Fremden bringt mich völlig aus der Fassung. Später, als ich im Büro warte, bis ich mein Anliegen vorbringen kann, fällt mir ein Traum ein, den ich zwei Tage vorher hatte:
Ich sitze in meinem Auto und warte auf jemanden, die Scheibe bis zum Anschlag heruntergekurbelt. Es ist ein grauer, regnerischer Tag. Auf einer niedrigen Mauer sitzen mehrere Krähen, eine von ihnen sieht zu mir herüber. Der Blick aus diesen Vogelaugen ist sehr fokussiert, ja stechend. Die Krähe hebt ihre Flügel und kommt im Sturzflug auf mich zu. Bevor ich auf diesen Angriff reagieren kann, landet sie mit ihren scharfen Krallen direkt auf meiner Hand und lässt ihren Schnabel auf meine Finger herab sausen. Sofort durchfährt mich ein scharfer Schmerz, ich spüre das Blut hervor schießen. Im Traum bin ich wie paralysiert und starre den Vogel an, weil ich ahne, dass er mir etwas Wichtiges sagen will.
Dann wache ich auf. Es ist wie eine düstere Vorahnung, die ich nicht deuten kann.
Nachdem ich alles mit dem Mitarbeiter der Autoverglasung geklärt habe, übergebe ich dem Mann am Tresen meinen Autoschlüssel und verlasse den Laden. Dichte, schwere Wolken hängen über Schöneberg, es wird bald anfangen, zu regnen. Ich ziehe den Mantel enger um mich und sehe mich um. Doch der hilfsbereite, sanfte Engel in Menschengestalt ist verschwunden.
Into, 20.04.2017