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Inspiration und abgesprochene Sexualität67
Wenn Behinderung und Sexualität in den Medien dargestellt werden oder…
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Geschichtenspiel Teil 45

*****e_M Frau
8.386 Beiträge
@*********ynter

Danke für diese eindrückliche Beobachtung, berührend und nachdenklich.

*bravo*
*****ree Frau
21.446 Beiträge
@*********ynter

Wieder einmal so gut. Diese kleine Beobachtung hat mir Tränen in die Augen getrieben.

Beneidenswert diese Paare, die es geschafft haben gemeinsam alle Hürden und Herausforderungen zu meistern.
Jetzt ernten sie wahrscheinlich die Früchte ihrer Lebensarbeit und genießen ihre in langen Jahren gewachsene Zuneigung zueinander.
Das ist nicht allzu vielen vergönnt.

Du hast es wieder einmal geschafft die richtigen Worte zu finden und eine zauberhafte Geschichte daraus gewoben. *hutab*
*********cht76 Mann
486 Beiträge
Liebe @*********ynter ,
Eine sehr berührende Geschichte, die mir auch gerade aus sehr persönlichen Gründen viel gibt. Danke *heul2*
*******tia Mann
5.094 Beiträge
@*********ynter
Ein wichtiger Teil kam in der Geschichte vor:
Im Gespräch bleiben, auch wenn manches bereits stumm und ohne Worte funktioniert.
**********henke Mann
9.653 Beiträge
Das Insistieren seines Assistenten ließ Grange hellhörig werden. Nein, ein Kaffee würde hier nicht reichen, er brauchte etwas Stärkeres. Gut, wenn schon Urlaub, dann auch einen, in dem der Erholungseffekt maximal war. Weit weg von den untragbaren Zuständen des Agentenlebens, irgendwo in einer Gegend mit Samantha, Annabella, Bambus, Strand, Sonne, Palmen, blauem Wasser, mit Zeit zum Schreiben…

„Matthias, habe ich eine Psychose?“ Streissler reagierte nicht sichtbar auf Granges Frage, reflektiert erwiderte er nach einer langen Sekunde: „Jean-Marie, wir haben in unserem Job wohl alle eine! Aber was wären wir, wenn wir die nicht in den Griff bekämen? Das Krankheitsbild bei Psychosen ist sehr vielfältig. Betroffenen haben typischerweise Halluzinationen oder Wahnvorstellungen sowie schwerwiegenden Denkstörungen. Diese Symptome werden oft von starken Ängsten begleitet. Zusätzlich können auch Störungen des Antriebs oder sogenannte „Ich-Störungen“ auftreten.“

Grange bewunderte Streisslers Fähigkeit, aus dem Stegreif wie ein Lexikon zu quatschen. Als er die Wörter in seinem müden Kopf zu einer Sinneinheit zusammengefügt hatte, nickte er kurz wie ein aufgeheizter Leguan und brummte ein: „Also, nein!“, um nach einer kleinen Pause hinzuzufügen „Leg mal bitte die Wassermusik auf, mir ist nach Händel!“

Streissler belustigte, dass Grange immer noch redete, als ob die Zeit der Platten noch nicht vorbei wäre. Händel war jetzt gut zum runterkommen, besonders die Bourrée versetzte ihn um Jahrhunderte zurück, ließ ihn auf dem Hofball im Kerzenschein schwelgen… bis er das Kratzen der Läuse unter der Allongeperücke körperlich spüren konnte und den rottenden Odem faulender Zähne roch. Grange schien das gleich zu denken, denn er schüttelte sich und sagte laut: „Gut, dass wir in einem Jahrhundert mit fließendem Wasser leben!“
*******tia Mann
5.094 Beiträge
@**********henke

Jetzt habe ich mir gerade ein Platte aufgelegt zum Lesen... *top2*
*******day Frau
14.250 Beiträge
Stunde Null
Ekatarina bebte am ganzen Körper. Sie wagte kaum zu atmen. Olbrzym, wie sie den zweieinhalb Kopf größeren Mann innerlich nannte, blickte auf sie herunter. Seine grauen Augen zogen sich zusammen. „Das dürre kleine Ding muss verschwinden, und zwar schnell“, schoss es ihm durch den Kopf. Für einen Moment stieg Panik in ihm auf. Aber davon durfte sie nichts mitbekommen.

Das tat sie auch nicht, denn sie hielt den Kopf demütig gesenkt. Ihre mageren Arme in dem gestreiften Kittel umklammerten das kleine Bündel Mensch, das vorgestern aus ihr herausgeflutscht war. Sie betete innerlich, dass sie nicht wieder anfing zu bluten. Der Riese würde sicherlich wütend, wenn sie den Fußboden ruinierte. Er wurde schnell wütend. Andere schrien laut, er wurde dann ganz still, griff zum Bambusrohr und schlug zu. Kurz, präzise und unbarmherzig. Sie hatte schnell gelernt, dass dieser Mann ein „Nein“ nicht akzeptierte.

Es fiel ihr immer noch schwer, diese fremde Sprache zu verstehen. Zuhause in Krakau hatten sie natürlich polnisch gesprochen, gelegentlich auch Französisch, wenn Besuch von Mutters Verwandtschaft kam. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, um wenigstens etwas von den Wörtern zu verstehen, die jetzt auf sie einprasselten.

„Du, Unterschrift, hier!“ Der Mann knallte ein Stück Papier vor ihre Nase. Sie sah sich scheu um, dann legte sie den Säugling behutsam auf den Boden. Gehorsam nahm sie den Federhalter und schrieb ihren Namen auf die Linie, die er ihr zeigte. Ekatarina Jelnikowa. Wie oft hatte sie ihn in den letzten zwei Jahren innerlich vor sich hingesprochen, um ihn nicht zu vergessen.

„Datum, Geburt!“ Der Zeigefinger wies auf eine andere Linie. Sie dachte nach, aber sie wusste nicht, wie der Monat auf Deutsch hieß. Also schrieb sie 27-5-1927 hin.

„Ort, Geburt!“ Der Zeigefinger wies auf eine andere Linie. Krakau. Das wusste sie seit die Deutschen überall die deutschen Schilder aufgestellt hatten. Der Säugling gluckste leise. Scheu legte sie den Federhalter und nahm den Jungen auf den Arm.

Der Riese setzte sich an seinen Schreibtisch und drehte das Papier herum. So also lautete ihr Name. So alt wie seine Tochter. Endlich ein zweiter Sohn. Nur von der falschen Frau. Er lachte bitter auf. Es war alles verloren. Er würde von Glück reden können, wenn er das jetzt überlebte. Von überall strömten mit den Flüchtlingen Horrormeldungen ins Dorf. Seine Autorität war im Schwinden. Die ersten verbrannten schon ihre Fahnen. Er hatte keine Wahl. Er musste zeigen, dass er kein schlechter Kerl war, dass er die Zustände schon länger untragbar fand – ein Opfer des Systems wie so viele. Er presste die Lippen zusammen und füllte das Formular aus. Geschlecht: männlich. Geboren: 27-3-1945 in Barstedt. Name: Heinrich. Vater: Heinrich Simon, Beruf: Bauer. Beurkundet durch: Heinrich Simon, Bürgermeister und Standesbeamter am 29-3-1945.

Er atmete kurz durch und griff zu einem zweiten Papier. „Passierschein für:“, er sah kurz auf die Geburtsurkunde, „Ekatarina Jelnikowa, geboren 27-5-27 in Krakau.“ Anschließend griff er zum amtlichen Personenstandsregister und trug die eben beurkundete Geburt sorgfältig ein. So wollte es nicht nur die deutsche Ordnung. Das war jetzt seine Lebensversicherung. Dürftig, aber besser als nichts.
Er griff in die Gemeindeasse und zog eine Handvoll Münzen heraus. „Ach, was soll der Geiz“, dachte er und nahm noch einige Scheine. Er zählte durch und ergänzte „28,35 RM Reisegeld“ auf dem Passierschein. Dann steckte er die beiden Dokumente mit dem Geld in einen Umschlag und drückte es der jungen Frau in die Hand.

„Geh nach Hause“, sagte er. Dann ließ er sie stehen und verließ das Rathaus. Er setzte sich auf sein Moped und inspizierte die Verteidigungslinie. Da kam Hagen angelaufen und wedelte mit einem Schreiben. Dass der Bengel auch so gar nicht nach ihm kam. Er nahm den Wisch und las „Befehl vom Oberkommando. Verteidigung bis zum letzten Mann“. Die Unterschrift war kaum leserlich. Er schickte seinen Sohn herum, um den Volkssturm zusammenzutrommeln. Widerwillig kamen die alten Männer und jungen Kerle angetrabt. „Die Panzersperren müssen weg“, blaffte er den zusammengewürfelten Haufen an. Das hier war der Zusammenbruch. Jeder musste jetzt sehen, wie er seine Haut rettete.

Ekatarina sah auf den Umschlag und dann auf das Kind. „Hein-rich“, flüsterte sie. Dann dachte sie nach. Zuhause, in Krakau auf dem Lyzeum hatten sie ihnen beigebracht, nicht impulsiv zu handeln. „Die Dinge reflektiert angehen“, das wurde ihnen fast täglich gepredigt. Sie konnte nicht zurück. Nicht mit einem unehelichen Kind von einem Nazi, der ihr Vater hätte sein können. Erneut sah sie auf das Kind – ihr Kind, ob sie wollte oder nicht. Sie warf einen Blick in den halbblinden Spiegel an der Wand. „Honor“, murmelte sie vor sich hin. Dann verließ sie das Rathaus und ging unbehelligt durch die Gruppen von Männern, die die Panzersperren wegräumten. Sie ging nach Westen. Die Richtung war eindeutig. Seit Wochen gingen alle nach Westen.

*

„Ma’am, entschuldigen Sie die Störung“, Harris räusperte sich diskret, aber Sir Arthur hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen und reagiert seit Stunden nicht auf unser Klopfen…“

„Schon wieder“, Elisabeth wandte sich in ihrem Schreibtischstuhl um. „Ich brauche noch etwa zehn Minuten für die Chiffrierung des Telegramms. Das hat Vorrang. Louise soll es dann zum Postamt tragen. Danach kümmere ich mich um Arthur!“ Die im höfliche Ton vorgetragene aber eindeutige, klare Anweisung veranlasste Harris, sich mit einer stummen Verbeugung zurückzuziehen.

Elisabeth starrte einen imaginären Punkt an der Wand an, dann riss sie sich zusammen und setzte ihre Arbeit fort. Nach exakt zehn Minuten zog sie zweimal an dem Klingelzug, der neben dem schweren Biedermeiersekretär mit den Dutzenden Schubladen hing. Es dauerte keine Minute, dann trat eine Frau mittleren Alters ein. Sie trug Hut und Mantel, ein sicherer Hinweis, dass Harris sie bereits über den bevorstehenden Auftrag informiert hatte.

Elisabeth erhob sich. Obwohl Louise nicht gerade klein war, überragte her Ladyship sie noch einmal deutlich. Die Mittvierzigerin trug einen schlichten grauen Wollrock, eine blütenweiße Hemdbluse und eine grob gestrickte schwarze Weste mit aufgesetzten Taschen. Die dunklen Haare, von reichlich silbernen Strähnen durchzogen, hatte sie zu einem schlichten Knoten hochgesteckt. Nichts an ihrer äußeren Erscheinung ließ erahnen, dass die verwitwete Frau Professor Schmidt, geborene Donahue, die Schwester von Sir Reginald, 6th Earl of Loch Armand war. Nur ihre kerzengerade, aber keinesfalls steife Haltung und ihre Art sich auszudrücken zeigten, dass sie es von klein auf gewohnt war, Befehle zu erteilen. Sie streckte die Hand mit dem ausgefüllten Telegramm vor.

„Louise, das geht bitte zur Post. München. Eine Anfrage wegen Ihrer kranken Mutter. Bitte achten Sie darauf, dass es auch wirklich verschickt wird!“

„Keine Sorge, Ma’am“, entgegnete die Andere. „Heute Vormittag hat Adolf Hartmann Dienst. Der hat ein Auge auf mich geworfen.“ Sie lächelte abschätzig. „Bei dem muss ich nicht insistieren, der frisst mir aus der Hand.“ Sie nahm das Telegramm, nickte ihrer Vorgesetzten kurz zu, drehte sich um und verließ den Raum. So entging ihr das verhaltene Lächeln, mit dem Lady Elisabeth ihre ebenso freimütigen wie selbstbewussten Worte quittierte.

*

Erschöpft kletterte Ekatarina aus dem Eisenbahnwaggon. Es erschien ihr immer noch wie ein Wunder, dass sie nach tage- bzw. nächtelangen Fußmärschen einen Platz ergattert hatte. Um sie herum herrschte ein einziges Sprachgewirr. Als sie auf dem Bahnhof in Braunschweig französische Laute vernommen hatte, hatte sie beherzt „Catherine avec Henri“ geantwortet, als der Mann in der fremden Uniform sie angesprochen hatte. Seine Antwort war zwar nicht Französisch gewesen, aber weder er noch sonst jemand hatte in dem Durcheinander diese Aussage überprüft. Sie hatten ihr sogar ein altes, blaues Kleid und ein paar Schuhe gegeben. Beides war zu groß, aber allemal besser als der Kittel und die Holzpantinen.

Scheu sah sie sich an dem fremden Ort um und ließ sich mit der Menge aus dem Gebäude treiben. Zum Glück verschlief der Kleine weite Teile des Tages. Und zu ihrem eigenen Erstaunen hatte sie genug Milch für ihn. „Zur Stadt“, entzifferte sie auf einem Holzschild. Aber welche? Eigentlich war das egal. Hauptsache im Westen. Es führte vorerst kein Weg zurück nach Krakau.

Draußen standen Tische mit einem Plakat auf dem „Registrierung“ stand. Sie reihte sich in die Schlange ein und wartete geduldig. Schließlich erhielt sie einen Zettel, den sie wohl ausfüllen sollte. „Quartierschein,“ stand dort auf Deutsch, aber der Soldat redete in einer anderen Sprache.

„Nix verstehen. Je n‘est comprend pas“, sagte sie mechanisch. In dem Moment fing Heinrich an zu weinen. Hilfesuchend sah sie sich um, aber es gab keinen geschützten Platz, um ihn dort zu stillen. Errötend öffnete sie die oberen Knöpfe ihres Kleids. Sofort patschte die kleine Hand dorthin. Kurz darauf nuckelte er zufrieden.

Plötzlich stand neben dem Soldaten eine große, schlanke Frau. Sie war mindestens zwei Köpfe größer als sie selbst. Sie sprach ein paar Sätze. Und sie schien wichtig zu sein, denn der Soldat salutierte vor ihr.

„I take her, Sergeant“, sagte Elisabeth mit Nachdruck, umrundete den Tisch, nahm das dünne, kleine Ding in dem viel zu großen Kleid an die Hand und zog sie aus der Schlange.

„Du bist keine Französin“, konstatierte sie auf Deutsch mehr als sie fragte. Die großen, grau-grünen Augen blickend prüfend auf sie herunter.

Sie wagte nicht zu lügen. „Ekatarina Jelnikowa, Krakau“, antwortete sie zaghaft. Sie nahm den Säugling von der Brust. „Heinrich“, ergänzte sie leise.

Für einen Moment schien Elisabeth zu zweifeln. Ihr Blick ging vom Gesicht der jungen Frau zu dem des Kindes und wieder zurück. „Na, Du hast es nicht zurückgelassen. Spricht für Dich“, murmelte sie. Dann sagte sie „mitkommen!“

Den Ton kannte Ekatarina zur Genüge. Gehorsam ging sie neben der großen Dame her. Verstohlen schielte sie von rechts nach links. Am Bahnhof lagen Trümmer, aber je weiter sie gingen, desto schöner sah alles aus. Eine breite Allee führte schnurgerade in die Stadt. Es ging vorbei an prächtigen Häusern, teils aus Fachwerk, teils aus Stein. Überall liefen geschäftige Menschen hin und her. Wären nicht die Soldaten mit der „MP“-Armbinde gewesen, man hätte meinen können, es hätte nie einen Krieg gegeben.

Ekatarina überwand ihre Scheu. „Nix“, sie korrigierte sich „kein Bombe?“, fragte sie.

„Wenig“, antwortete die Andere. „Nur der Bahnhof und die Universitätsbibliothek…“ Dann realisierte sie, dass die junge Frau sie nicht verstand. „Wenig“, wiederholte sie und ging schweigend weiter. Nach einer Weile führte der Weg bergauf. Hier standen Villen hinter hohen Gitterzäunen inmitten von Gärten mit blühenden Blumen und mächtigen Bäumen.

Elisabeth öffnete eine Gartentür. „Komm!“, sagte sie ohne sich umzudrehen. „Wir sind da.“ Wie von Geisterhand öffnete sich die Haustür. Ein ältlicher Mann mit Halbglatze, gekleidet in einen schwarzen Anzug erschien. „Ich wusste nicht, dass wir Besuch bekommen, Ma‘am“, sagte er mit einer Mischung aus Erstaunen und Skepsis.

„Einquartierung, Harris“, antwortete Elisabeth. „Wir haben alle unseren Teil beizutragen.“

Harris räusperte sich verhalten. „Na, dann komm mal mit, junge Dame“, sagte er und wies auf eine Tür. Als Elisabeth nickte, folgte sie dem Mann nach. Ehe sie sich versah, saß sie in der Küche, vor sich eine dampfende Tasse und ein Stück Brot.

„Kaffee“, sagte eine Frauenstimme. „Also, Muckefuck. Aber besser als nichts. – Ich bin übrigens Louise.“

Die nächsten Stunden waren seltsam. Kaum hatte sie ihr Brot aufgegessen und den Muckefuck ausgetrunken saß sie in einer Badewanne mit warmen Wasser und sah zu, wie Louise den kleinen Heinrich wusch und mit einer echten Windel wickelte. Dann kam die große Frau herein und legte Kleidung ab. „Von meiner verstorbenen Schwiegermutter“, sagte sie und ging wieder. Plötzlich gellte ein spitzer Schrei durch das Haus. Ekatarina zuckte zusammen, wagte aber nicht zu fragen, was da geschah. Das warme Wasser lullte sie ein, sie fiel in einen Dämmerzustand, unfähig noch einen klaren Gedanken zu fassen.

„Dich packen wir wohl besser ins Bett“, entschied Louise. Und so lag sie kurz darauf in einem gebügelten Nachthemd in einem frisch bezogenen Bett. Sie bekam gerade noch mit, dass Heinrich in eine Wiege gelegt wurde. Dann fiel sie in einen tiefen Schlaf.

*

Arthur kauerte in der Zimmerecke. Mit brennenden Augen las er wieder und immer wieder den knittrigen Brief in seinen Händen. Er versuchte zu verstehen, was er bedeutete. „May true love forever but…“ Schließlich begriff er, dass Reg beschlossen hatte zu heiraten. Er merkte nicht einmal, dass er einen spitzen Schrei ausstieß. Ihm blieb die Luft weg. er kippte zur Seite um und blieb liegen.

Der spitze Schrei schreckte Elisabeth vom Schreibtisch hoch. Sie ließ das kaum begonnene Memorandum über „die Reaktionen der lokalen Bevölkerung auf den Selbstmord des Führers“ liegen und lief auf den Flur, wo sie fast mit Harris zusammenstieß. Sie drückte die Klinke von Arthurs Tür herunter, Abgeschlossen. Sie sah zu Harris und nickte ihm zu. Er zog ein Bündel mit Drahtstiften hervor. Routiniert hantierte er am Schloss, und einige Sekunden später stand die Tür offen.

Gemeinsam schafften sie den schlaksigen, jungen Mann aufs Bett. „Riechsalz!“, befahl Elisabeth. Harris rannte los. Sie klatschte ihrem Sohn mit den Händen auf die Wangen und rief seinen Namen. Stiere Augen öffneten und schlossen sich wieder. Er wand sich hin und her. Seine geballten Fäuste öffneten sich, ein konvulsivisches Zucken ging durch den schmalen Körper. Ein Blatt Papier segelte auf den Boden. Elisabeth stecke es mechanisch in die Westentasche. Harris kam mit dem Riechsalz und wedelte damit unter Arthurs Nase hin und her. Erneut öffneten sich die Augen. Ein weiterer Anfall war vorbei. Elisabeth kehrte an ihre Arbeit zurück.

*

Nachdenklich betrachtete Louise den Umschlag in ihrer Hand. Sie dachte kurz nach, dann zuckte sie mit den Schultern. Nach einem kurzen Klopfen betrat sie das Arbeitszimmer. „Ma’am. Ich habe das hier bei der jungen Frau gefunden.“ Sie streckte die Hand mit dem Umschlag aus. Elisabeth nahm ihn und steckte ihn in die Westentasche.

„Wie geht es ihr?“

„Sie war sehr müde. Ich habe sie im ehemaligen Kinderzimmer von Sir Arthur ins Bett gebracht und das Baby in die Wiege gelegt.“

„Gut. In der Kommode dort müssten auch noch Babysachen von Sir Arthur liegen. Aber erstmal muss der Bericht losgeschickt werden.

„Auf dem üblichen Kanal oder über den neuen Standortkommandanten, Major Rudger Bancroft?“

Elisabeth horchte bei dem Namen auf, ließ sich aber nichts anmerken. „Auf dem üblichen Kanal natürlich. Ich würde eher sterben als einem x-beliebigen Offizier gegenüber zu erwähnen, dass ich für die Baker Street tätig bin. Die Firma hört nicht auf zu arbeiten, nur weil das Monster tot ist. Wegtreten!“
Louise verließ den Raum. Elisabeth nahm die Papiere aus ihrer Westentasche und vertiefte sich in die Lektüre.

*

Harris saß an dem wackligen kleinen Tisch und ölte behutsam und sorgfältig die vor ihm aufgereihten Metallteile ein. Der Krieg war vorbei. „Aber nur der auf dem Schlachtfeld“, murmelte er leise. „Unserer geht weiter.“ Seine Gedanken wanderten zu Sir Arthur. Seine Psychose brach immer häufiger und ohne erkennbare Gründe aus. Er bewunderte Lady Elisabeth dafür, dass sie es geschafft hatte, ihren Sohn vor dem Irrenhaus der Nazis und damit wohl auch vor dem Tod zu retten.

Er rief sich zur Ordnung und begann, den Enfield No. 2 Mark 1 wieder zusammenzusetzen. Sorgfältig überprüfte er, dass nichts hakte und die Trommel leichtgängig rotierte. Gerade als er die Munition einsetzen wollte, öffnete sich die Tür, und Elisabeth trat ein. Erschrocken sprang er auf. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie das Butlerzimmer jemals betreten hatte.

Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich daran an. „Harris, Ihre besonderen Fähigkeiten sind gefragt. Unsere neue Mitbewohnerin benötigt neue Papiere.“ Sie dachte kurz nach. „Ein britischer Standardpass wird reichen. Name: Catherine Simon, ledig, geboren am 27. Mai 1927 auf Islay. Visumstempel aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Keine deutschen.“

„Geht klar, Ma’am, aber – ich möchte anmerken, dass ein eigener Pass für eine Minderjährige eher ungewöhnlich ist.“

„Sie haben natürlich recht. Schreiben Sie 1923 und drehen Sie es so, dass sie vor spätestens zwölf Monaten das letzte Visum bekommen hat. – Wenn etwas ist, ich bin bei Arthur. Und wenn Louise wieder da ist, soll sie sich umgehend bei mir melden.

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie den Raum und suchte ihren Sohn. Arthur saß im Salon und blätterte in einem Roman. Er war noch etwas blass, hatte sich aber leidlich gefangen. Trotzdem war ihm mulmig bei dem Gedanken, dass seine Mutter den Brief gefunden hatte. Er erwartete eine geharnischte Strafpredigt.

Tatsächlich kam sie ohne Umschweife zur Sache. Kurz und knapp, als wäre er einer ihrer Mitarbeiter.

„175 endet nicht, nur weil die Nazis nicht mehr an der Macht sind. Reg scheint das verstanden zu haben. Und Du wirst umgehend dem Beispiel Deines Cousins folgen. Ich arrangiere das, und Du wirst gehorchen!“ Sie ging zur Tür, drehte sich noch einmal um uns ergänzte, „you have to be straight – dear!“ Gegen „dear“ war jeder Widerstand zwecklos. Arthur sackte in sich zusammen. Als die Tür sich geschlossen hatte, brach er in Tränen aus.

Elisabeth ging hoch in ihr Schlafzimmer und durch die Seitentür in ihre Ankleide. Es war Zeit für das schokobraune Komplet.

*

Major Bancroft saß an seinem neuen Schreibtisch und verfluchte den Tag. Diese deutschen Bürokraten mit ihren pedantischen Nachfragen und penetranten Versuchen, die Sperrstunde aufzuheben, nervten ihn ebenso wie diese steifen Professoren, die in schlechtem Englisch darauf bestanden, Vorlesungen abzuhalten, denn schließlich war ihre Universität ja mal von George II: gegründet worden. Also waren sie alle miteinander quasi Briten. Eben hatte er den zehnten Besucher in Folge herauskomplimentiert. „Ein Königreich für eine Tasse Tee“, murmelte er.

Doch sein beflissener Adjutant gönnte ihm keine Pause. Vorschriftsmäßig salutierte und meldete er, „draußen steht eine Lady für Sie, Sir!“

Bevor Bancroft etwas sagen konnte, betrat die Dame sein Büro, schob Davis beiseite und ging mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Sie war eine imponierende Gestalt: groß und schlank, kerzengerade Haltung. Sie trug ein schokobraunes Mantelkleid, tadellose Nylonstrümpfe mit eleganten Pumps, einen farblich passenden Hut nebst Handschuhen und Tasche. Kurzum, vom Scheitel bis zur Sohle eine englische Lady.

„Rudger, my dear. Wie schön dich zu sehen“. Ein paar flüchtige Küsse zerplatzten kurz vor seinen Wangen.

„Tante Lizzy?!“ Bancroft war mehr als perplex. Davis verließ diskret den Raum und verschloss die Tür.

Elisabeth setzte sich ohne Umstände auf den nächstbesten Stuhl und erläuterte ihr Anliegen. „My dear. Ich weiß, Du hast hier schrecklich viel zu tun. Also mache ich es kurz, Der gute Arthur wurde von Amors Pfeil getroffen und hat der Natur seinen Lauf gelassen. Du wirst verstehen, dass wir unmöglich von den Nazis eine Trauung durchführen lassen konnten. Und nun war der neue Erdenbürger schneller als die Royal Army. Du kannst das doch sicher diskret mit einer Ziviltrauung in Ordnung bringen? Und dann brauchen wir natürlich noch eine Geburtsurkunde für den kleinen Henry. Meinst Du, Du kannst das Datum etwas, sagen wir optimieren, damit wir ohne den ganzen Adoptionskram klarkommen?“

Bancroft schwirrte der Kopf. „Ja, aber…“ versuchte er zu insistieren.

Elisabeth setzte ein warmherziges Lächeln auf. „Ich muss Dich doch nicht an Balmoral, Anno 38 erinnern, my dear?“

Bancroft wurde leichenblass. „Natürlich nicht“, stotterte er.

„Fein, dann ist das also abgemacht. Sagen wir, morgen früh um 11 Uhr? Hier ist meine Karte. Die gute Catherine ist noch zu schwach, um durch die Stadt zu laufen.“

Bancroft nickte mechanisch. Elisabeth lächelte befriedigt. „Dann will ich Dich auch gar nicht länger stören“. Sprachs und rauschte hinaus.

Der Major starrte hinter ihr her. Die Lust auf Tee war ihm vergangen. Er brauchte dringend eine Brandy.

*

Ekatarina saß aufrecht im Bett und versuchte zu verstehen, was die beiden Frauen von ihr wollten. Die große Dame, die sie am Bahnhof aus der Schlange geholt hatte, sprach in der fremden Sprache, von der sie inzwischen wusste, dass sie „Englisch“ hieß. Louise sagte dann etwas zu ihr auf Polnisch, zwar mit starkem Akzent, aber verständlich. Es tat gut, die eigene Sprache zu hören und sprechen zu dürfen. Die Menschen in diesem Haus schienen es gut mit ihr zu meinen. Vermutlich hatte sie aber auch gar keine Wahl. Also nickte sie zu allem. Nachdem die große Dame gegangen war, half Louise ihr beim Anziehen. Gemeinsam übten sie einen Satz in der englischen Sprache. Dann musste sie sich hinsetzten und einen Namen mehrfach abschreiben. Dann kam der Mann mit dem schwarzen Anzug herein und legte ihr ein kleines, abgegriffenes Büchlein vor. Louise zeigte auf eine Linie. Gefügig schrieb sie „Catherine Simon“.

„Der Major kommt um Elf“, sagte Harris zu Louise. „Sieh zu, dass sie bis dahin ihren Satz kann und ihren zukünftigen Namen richtig schreibt. Und schärf ihr ein, ansonsten keinen Pieps zu sagen, sonst fliegt die Sache auf.“ Er ging nach unten und richtete das Esszimmer her.

Pünktlich um 11 Uhr führte Louise Ekatarina in das Esszimmer. Hinter dem Tisch saß ein Mann mit Uniform, davor ein anderer, viel jünger Mann mit einem hellbraunen Lockenkopf. Louise schob sie auf den freien Stuhl neben dem jungen Mann und setzte sich selbst an ihre andere Seite.

Ekatarina verstand nicht, was gesprochen wurde. Der Uniformierte schrieb etwas auf und schien Fragen zu stellen. Die große Dame antwortete ihm, und er schrieb erneut. Schließlich sah er Ekatarina direkt an und fragte sie etwas. Louise stupste sie an. Gehorsam sagte sie, „yes, I will“.

Dann steckte der junge Mann ihr einen Ring an ihren Finger und sagte ebenfalls, „yes, I will“. Zum ersten Mal sah sie sein Gesicht. Er sah gequält aus.

Wieder gab es ein Papier mit einer Linie. Und wieder stupste Louise sie an. Also schrieb sie „Catherine Donahue“ dort hin. Dann wurde ein zweites Papier hingelegt. Sie schrieb „Henry“ in die Zeile, die man ihr zeigte.

„Honor“, murmelte sie leise vor sich hin. Krakau war endgültig Geschichte.


© Sylvie2day 11. 8. 2023
*****ree Frau
21.446 Beiträge
wow, das ist mal eine Story, es wird sich zeigen, ob es eine glückliche Wendung ist. *top*
*******tia Mann
5.094 Beiträge
Tiefen Respekt für diese spannende Geschichte aus der Geschichte, @*******day !
*******tia Mann
5.094 Beiträge
Bambus
Es gab eine Zeit, da konnte ich von meiner Terrasse aus, beim ersten morgendlichen Kaffee, den zufriedenen Blick über dieses wunderschöne Tal schweifen lassen. Deutsche Hügel, deutscher Wald, deutscher Bach. An den Ufern des Gewässers tummelten sich deutsche Wildschweine, die sich an der reichen Ernte deutscher Eicheln labten. Gelegentlich hüpften deutsche Rehe über deutsche Wiesen und hier und da erschien gelegentlich ein deutscher Hirsch im Unterholz. Ich genoss die morgendlichen Stunden, um in der aktuellen Ausgabe der „Jagd & Hund“ zu stöbern oder die neusten Anzeigen in der „Pirsch“ zu studieren.

Diese goldenen Zeiten zufriedener Beschaulichkeit sind Vergangenheit. Unser Bauplatz war leider nicht der letzte im hügeligen Neubaugebiet am Rand der kleinen Gemeinde. Es war der vorletzte. Der letzte Bauplatz befand sich am Hang unterhalb meiner bescheidenen Hütte. Der Bau des Hauses meines neuen Nachbarn sollte nicht das Problem sein. Das abschüssige Grundstück und der Bebauungsplan waren so geregelt, dass mir der phantastische Ausblick erhalten bleiben sollte.

Wäre da nicht die willkürliche Bepflanzung gewesen.

Jeden Morgen kochte ich vor Wut. Wie konnte dieser Kretin es wagen, sein Grundstück dermaßen zu bepflanzen?
„Du entwickelst noch eine echte Bambus-Psychose, wenn du dich weiter so aufregst!“, zeterte meine Gattin. Sie schenkte mir einen beruhigenden Johanniskrauttee ein: „Denk' an deinen Blutdruck, Bärchen!“
Doch ich wollte mich nicht beruhigen. Ich wollte mich nie mehr beruhigen. Dieser wild wuchernde Bambus musste weg.
„Nein. Ich kann mich nicht beruhigend. Der Zustand ist doch untragbar!“, ereiferte ich mich. Ich spürte meinen Herzschlag, der Tinnitus in meinen Ohren wurde lauter. „Asiatisches Riesengräser in unserer schönen, deutschen Landschaft. Wo kommen wir denn da hin? Kann denn hier jeder dahergelaufene Akademiker machen, was er will?“

Dabei hatte alles recht friedlich begonnen. Sollte der Herr Doktor ruhig seinen flachen Bungalow bauen, wie es ihm gefiel. Ich war stets behilflich, half gerne aus mit Baustrom, Wasser, Kaffee und Leberkässemmeln für die Bauarbeiter oder einem kühlen Bierchen am Abend, wenn der Herr Doktor seine Baustelle begutachtete. Freundlich unterhielten wir uns über den Fortschritt der Baumaßnahmen. Es war eine friedliche Zeit deutscher Wertarbeit, die durchaus meine Würdigung empfing. Stolz präsentierte ich Wuchs und Kraft meines angelegten Gartens, ganz im Sinne des Bebauungsplans, der einheimische Gehölze im nötigen Grenzabstand vorschrieb. Unter Eichen und Buchen, sollst du die deutsche Seele suchen.

Es war dieser zweiwöchige Urlaub mit meiner Frau, damals in der Lüneburger Heide, zur Heidschnuckenjagd mit Schützen aus dem gesamten Bundesgebiet. Wieder zurück, traute ich meinen Augen kaum. Der feine Herr Doktor grenzte sein Grundstück mit einer dichten Reihe dieser hässlichen, kerzengerade wachsender Bambusstauden ein. Was hatte er zu verbergen, wenn er solche biologischen Sichtbarrieren errichten musste?

In wenigen Jahren wuchs dieses Teufelszeug in Höhen, die den Ausblick in mein geliebtes Tal unmöglich machten. Zwar hatte er den Wuchs der Wurzeln, durch in den Boden getriebene Stahlplatten, so weit eingeschränkt, dass die Pflanzen keine Ableger in benachbarte Grundstücke verlegen konnten. Aber die Höhe der Pflanzen war einfach die Höhe. So ging das nicht!

Alles Insistieren hatte keine Erfolg. Ich schlug ihm vor, doch lieber eine leicht zu pflegende Buchenhecke zu pflanzen. Gerne würde ich sie für ihn zurecht schneiden. Vergeblich.
Mehrere Schreiben an die Gemeindeverwaltung zeigten keinen Erfolg. Wenn der hochwohlgeborene Herr Doktor asiatischen Bambus pflanzte, obwohl nur deutsches Grüngut erlaubt war, drückten die Gemeinderäte ein Auge zu. Durch die Hintertür erfuhr ich, dass es besser sei, einen Arzt nicht zu verärgern, denn schließlich sei es schwer genug gewesen, einen Allgemeinmediziner für die örtlichen Hausarztpraxis, in diese verlassene Gegend zu locken. Was zählte dagegen die Meinung und die stark eingeschränkte Lebensqualität eines Vorstands des örtlichen Forst- und Jagdvereins? Auch unser Gemeinderat war inzwischen stark durchdrungen von linksgrün versifften, Gender-Gaga-veganen Tierwohlschützern. Wölfe und Bären streunten bereits durch die nahen Wälder und Täler, ein ordentliches Hirschgulasch oder ein leckeres Rehrückenragout wurde dagegen schon lange nicht mehr in lokalen Gasthäusern serviert. Stattdessen Tofu-Grillwurst und Quinoa-Salat auf dem Dorffest. Prost Mahlzeit!

Meine Frau war auch schon den esoterischen und pseudopsychologischen Einflüssen des liberalen Mainstreams verfallen.
„Sei doch mal ein wenig reflektiert“, schlug sie mir unter anderem vor: „Es ist doch gar nicht der Bambus, der dich nervt. Geht es nicht viel mehr um dein kleines Selbstwertgefühl gegenüber der selbstsicheren Erscheinung des Herrn Doktor?“
Fiel sie mir etwa in den Rücken? Reichte ihr plötzlich das zufriedene Leben zwischen gepflegtem Haushalt, bezahlten Kreditraten und gut gefülltem Bankkonto nicht mehr aus?
„Der gute Herr Doktor und seine blonde Grazie, inklusive seiner verwöhnten Ritalinmonster sind mir völlig schnuppe. Möge er glücklich werden oder sich beim Kacken den Hals brechen – egal! Der Bambus muss weg!“
Mehr als ein verzweifelt klingendes Schnaufen hörte ich nicht mehr von meiner Gattin, als sie die Terrasse verließ, um irgendwo im trauten Heim zu verschwinden.

Ich klappte meinen Laptop auf und recherchierte. Nicht zum ersten Mal. Alle Maßnahmen gegen den Bambus würden mich als verärgerten Nachbarn outen. Darum suchte ich schon lange nach einer Lösung. Dabei erfuhr ich allerhand über den Bambus. Bambus, dass neue Gold der Bauindustrie. Bambus, dass Material, aus dem man fast alles herstellten konnte: Fahrräder, Möbel, Nahrungsmittel. Bambus, der Rohstoff der grünen Zukunft.
Als ich von der Bambusfolter erfuhr, konnte ich nächtelang nicht mehr schlafen, weil mich die Methode gleichermaßen erschreckte wie faszinierte:
Das Opfer wird auf den Boden gebunden, gespannt über einen Bambusspross oder über zugespitzten, abgeschnittenen Bambuspflanzen. Die Herkunft der Methode ist ungewiss. Wahrscheinlich nutzten sie bereits die Assassinen, die Roten Khmer ganz bestimmt, ebenso die Franzosen auf Réunion gegenüber ungehorsamen Sklaven und die Japaner im zweiten Weltkrieg. Bambus wächst schnell. In meinen lustvollen Albträumen hörte ich den Nachbarn im Garten vor Schmerzen schreien und verzweifelt um Gnade winseln …

So befriedigend diese sadistische Idee in meine dunklen Träumen auch war, suchte ich die elegante Lösung, ohne mich strafbar zu machen. Schließlich fand ich Informationen über den Feind des Bambus:
Der Bohrkäfer „Dinoderus minutus“ war scharf auf die Stärke im Bambushalm. Er nistete sich gerne in poröse Zwischenräume ein. Allerdings tat er das nur in geernteten Bambushalmen. Er war fähig, ganze Bambus-Bauten innerhalb weniger Jahre einstürzen zu lassen.
Lebende Bambuspflanzen dagegen, wurden gerne von der Bambusmilbe befallen. Lateinischer Name: „Schizotetranychus celarius“. Der Name amüsierte mich. Sollte ich wirklich an einer Bambus-Psychose leiden, konnte ein wenig Schizophrenie auch nicht mehr schaden. Meine Hobby-psychologische Ehefrau wäre vielleicht begeistert, doch ich behielt mein Geheimwissen lieber für mich. Der Klimawandel, an den ich nicht glauben mochte, erleichterte es der Milbe, in unseren schönen Breitengraden einzuwandern. Er war aber nicht effektiv genug, um den biologischen Zaun des Nachbarn niederzufuttern. Wenn es mir aber nun gelänge, den Bohrkäfer mit der Milbe zu kreuzen? Eine Idee, die sich in meinem Kopf breit machte, wie ein Schwarm gefräßiger Schadinsekten.

Im Keller gab es noch den Raum, der einst für die Öltanks vorgesehen war. Die allgemeine Klimahysterie hatte dafür gesorgt, dass dieser Raum nutzlos wurde und eine summende Wärmepumpe jetzt mein Haus, in den kaum noch spürbaren Wintermonaten, beheizte. Meine Frau hatte den Raum komplett vergessen, niemand würde nach dem vergessenen Hohlraum fragen. Als ehemaliger Imker und Fachmann für Zeckenbefall auf Wildtieren, sollte es mir ein leichtes sein, im Verborgenen meinen Experimenten nachzugehen. Auf einer ausgedehnten Asienreise („Seit wann interessierst du dich für Asien, Bärchen?“), konnte ich Exemplare des Bambus-Bohrkäfers über die Grenze schmuggeln. Die Bambusmilbe fand sich bereits hier und da auf den Bambuspflanzen an meiner Grundstücksgrenze. Es sollte doch möglich sein, den „Dinoderus minutus“ mit der „Schizotetranychus celarius“ zu kreuzen. Die Versuche konnten beginnen …

Sechs Jahre später, ich höre Internetradio auf meiner schönen Terrasse:
„Berlin. Eine seltene, bisher unbekannte Insektenart befällt in epidemischer Weise lebende Bambuspflanzen und alles, was jemals aus Bambus gebaut wurde. Vermehrt einstürzende Bauten und kahlgefressene Vorstadtgärten sind die Folge. Bisher konnte es Biologen auf der ganzen Welt noch nicht gelingen, Art und Herkunft des Schädlings zu identifizieren. Die Forschungsarbeiten gehen weiter. Experten sprechen von einem biologischen Rätsel.“

Zufrieden lächelnd schaue ich ins Tal. Deutsche Hügel, deutscher Wald, deutscher Bach. Wildscheine tummeln sich, ein Reh wird gerade von einem Wolf gerissen. Egal. Freundlich winke ich meinem Nachbarn zu, der gerade damit beschäftigt ist, kleine Triebe der Buchenhecke rund um sein Grundstück zu pflanzen. Für morgen haben wir ihn und seine blonde Frau zum Grillen eingeladen. Es wird Insekten-Burger und Grashüpfer-Steaks geben. Im Kühlschrank habe ich noch einen Rehrücken versteckt. Das Leben kann so einfach sein.

© impotenia
*********cht76 Mann
486 Beiträge
*bravo*
Ein Paradebeispiel der deutschen Kurzgeschichte, @*******tia
*******tia Mann
5.094 Beiträge
*******d18 Frau
6.119 Beiträge
Oh, wie amüsant-bös-trocken geschrieben, @*******tia !
*******tia Mann
5.094 Beiträge
Danke Dir, @*******d18
*danke*
*******t_by Mann
69.731 Beiträge
Ich muss schon sagen, das waren jetzt zwei Geschichten der Extraklasse, die ich zum zweiten Cappuchino lesen durfte.

Spannend @*******day, Kriegswirren mit Flucht nach Westen, die unerwartete nicht ganz uneigennützige Hilfe. Wie das wohl weiter geht? Da sehe ich eine gewisse Aktualität. *bravo*

Schmunzelnd @*******tia, eine runde und dichte Geschichte. Der Wurm des Nachbarschaftsstreits nagt nur an einem, der eine kreative Lösung findet. Köstlich. *top2*
Abgesehen davon auch irgendwie aktuell, wie das Deutschtum im Geheimen arbeitet.
*******tia Mann
5.094 Beiträge
Merci, @*******t_by,
hat auch mal wieder Spaß gemacht, so richtig lustvoll vom Leder zu ziehen.
*danke*
*********cht76 Mann
486 Beiträge
Nach den vielen nachdenklichen Geschichten noch etwas für die Lachmuskeln *zwinker*

insistieren
Bambus
Psychose
Kaffee
schreiben
reflektiert
nein
untragbar

So ein ausgeprägtes Sommerloch hatte Lokalreporterin Franzi noch nicht erlebt. Mittlerweile war sie schon seit fünfzehn Jahren für die Neustädter Neuesten Nachrichten in Neustadt und Umgebung unterwegs und füllte die Seiten des Blattes zum Vergnügen der Leserschaft. Nun saß sie jedoch missmutig mit ihrem Kaffee im Redaktionsbüro und hatte nichts zu schreiben. Nichts. Rein gar nichts gab es aus dem verträumten Städtchen zu berichten. Es war zum Verrücktwerden. Touristen hatten den Ort ohnehin schon immer links liegen lassen.

Auf der Redaktionssitzung hatte der Chef ihr vorgeschlagen, eine Tiergeschichte zu bringen. Nein, hatte Franzi da noch gedacht, das war unter ihrem journalistischen Anspruch. Nun griff sie resignierend doch zum Telefon und rief ihren alten Bekannten Hubert, den Direktor des örtlichen Tierparks an. Vielleicht hatten ja die Wölfe im Streichelzoo ihre Kälber ausgebrütet, oder die Brillenschlange musste zum Ohrenarzt, weil sie sich ein Bein verstaucht hatte.

Umso überraschter war Franzi, als Hubert erregt ins Telefon rief: „Franzi! Gut, dass du anrufst! Ich habe die Sensation für dich! Unsere Partner aus Xincheng wollen uns tatsächlich ein Pandapärchen besorgen! Stell dir vor, was das für ein Touristenmagnet für Neustadt wird! Von überallher werden sie kommen, um unsere Pandas zu sehen! Da kommt endlich einmal etwas Leben in die Stadt!“

„Wo wollt ihr die denn unterbringen?“ wunderte sich Franzi. „Das Zoogelände ist doch jetzt schon zu klein für all die Tiere.“ Sie bemühte sich, reflektiert zu wirken. „Außerdem fressen Pandas doch ausschließlich Bambus. Wo wollt ihr den denn in solchen Mengen herbekommen?“

„Ist doch kein Problem“, meinte Hubert. „Bambi ist doch der Plural von Bambus, also packen wir die zu den Rehen ins Gehege.“

„Das kann doch jetzt nicht dein Ernst sein“, insistierte Franzi irritiert. „Die armen Tiere. Die kriegen doch eine Psychose bei so einer Kombination!“

„So ein Quatsch. Raubkatzen kann man doch nicht mit Bären und Huftieren zusammentun! Die Psychoparden von unseren Kollegen aus Umujyimushya kommen selbstverständlich zu den Löwen und Tigern.“

Seufzend resignierte Franzi und legte auf. Immerhin sah sie schon ihre Schlagzeile vor ihrem inneren Auge: „Untragbare Zustände im Neustädter Zoo“.
*******tia Mann
5.094 Beiträge
*******d18 Frau
6.119 Beiträge
Ich möchte ein Panda sein, @*********cht76 .
Ne Quatsch, ging das nicht anders …?
*******tia Mann
5.094 Beiträge
Der Panda
*******tia Mann
5.094 Beiträge
Pünktlich um acht,
habe die Ehre:

wandern
Abgrund
genussvoll
Kloster
umfahren
Vereinsmeierei
umschreiben
Gehaltserhöhung

Viel Spaß und Kreativität, möge der Geist Goethes mit Euch sein!
*******d18 Frau
6.119 Beiträge
Och, Leute, ich muss einfach … ich möchte auch mal frech sein …

wandern
Abgrund
genussvoll
Kloster
umfahren
Vereinsmeierei
umschreiben
Gehaltserhöhung

Ne, vor dem Geist Goethes fürchte ich mich!
Da zaubere ich aus den vorgegeben Worten wandern, Abgrund, genussvoll, Kloster, umfahren, Vereinsmeierei, umschreiben und Gehaltserhöhung keine Geschichte.
Da habe ich zu viel Respekt vor dem wahrscheinlich größten deutschen Dichter und auch zu viel Angst vor dessen Geist. Wer weiß, was er mir antun könnte, wenn er mit dieser Geschichte nicht einverstanden wäre!
Nene, mache ich nicht!

Vielleicht traue ich mich auch noch an eine feine Geschichte, mit der Hilfe vom Geist Goethes.

(Den Spaß wollte ich mir einfach mal machen … Ladybird 🐞)
*******tia Mann
5.094 Beiträge
*****ree Frau
21.446 Beiträge
@*******tia

Herrlich böse Nachbarschaftssatire. *hutab*

Ich bräuchte bitte auch so ein Insekt, das Hainbuchen frisst. Kannst du bitte mal ein gutes Wort für mich einlegen? *lach*
*******tia Mann
5.094 Beiträge
@*****ree

Lieber über Hainbuchen fluchen,
als Bambus, der weg muss.

*ggg*
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