Zum wiederholten Mal schaute sie auf die Uhr. Unruhig bewegte sie sich hin und her und ließ schon den Kopf hängen – wie eine vor sich hin welkende Hibiskusblüte. Doch dann lächelte sie, denn sie hatte ihn erspäht. Wie immer um diese Zeit, kam er ins Café mit einer Zeitung in der Hand. Nahm wie üblich Platz am Fenster, bestellte einen Kaffee „so schwarz wie die Nacht“ und begann interessiert zu lesen. Er schien dabei völlig vertieft als säße er unter einer Glasglocke, nichts um sich herum noch wahrnehmend.
Sie hatte schon ungeduldig auf ihn gewartet und insgeheim befürchtet, er würde nicht kommen. Wobei – das schien fast unmöglich, denn er kam jeden Tag, zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk, sogar am Sonntag. Jedes Mal hatte sie sich gefragt, wie sie wohl seine Aufmerksamkeit erringen könnte ohne sich selbst dabei zu kompromittieren. Für den Fall, dass er kein Interesse an ihr hätte. Eine Zurückweisung seinerseits wäre für sie in ihrer Schüchternheit ein GAU. Eine Muse musste sie geküsst haben, war ihr doch eine außergewöhnliche Idee gekommen. Auch wenn deren Umsetzung, eine für sie, exorbitante Ausgabe bedeutete. Gespannt blickte sie zu ihm und bewunderte seine aufrechte Haltung. Sicher hatte er eine gute Erziehung genossen. Sie vermutete in ihm ein Mitglied der oberen Mittelklasse.
Mit einem Mal erstarrte er. Langsam ließ die Zeitung sinken und blickte vorsichtig nach rechts und links. Am Nachbartisch saß die alte Frau Müller mit ihrem Spitz auf dem Schoss, welchen sie mit einem Stückchen Torte fütterte. Missbilligend zog er eine Augenbraue nach oben und wandte sich zur anderen Seite. Dort bemühte sich eine sichtbar gestresste junge Mutter, ihrem Sprössling den trockenen Marmorkuchen schmackhaft zu machen. Sie hatte ja eher die saftige Nussschnecke empfohlen, aber darauf war der Dame zu viel ungesunder Zuckerguss. Selbst schuld.
Langsam wie in Zeitlupe drehte er sich nun in ihre Richtung. OMG! Ruckartig ging sie in die Hocke, versteckte sich hinter dem Tortenbüfett. Ihre Kollegin, die ihr just in diesen Moment eine Bestellung durchgegeben hatte, sah sie überaus seltsam an. Also tat sie so als suche sie etwas Wichtiges in der unteren Schublade. Als sie sich wieder aufrichtete, war sein Platz leer. Am liebsten hätte sie sich selbst geohrfeigt. Was war sie nur für eine dumme Gans! Sie musste sich redlich beherrschen, nicht loszuheulen. Alles umsonst! Heute hätte es passieren können, dass er sie zum ersten Mal bemerkt hätte. Sie war so wütend auf sich selbst, dennoch gewann ihre Professionalität die Oberhand. Geschickt schnitt sie die Schwarzwälder Kirschtorte in exakt dreizehn gleichgroße Stücke (so wie es als Konditoreifachverkäuferin gelernt hatte) und platzierte eines davon auf einem Teller.
„Die sehen aber alle lecker aus, da bekommt ja man richtig Hunger. Die pinke da – können Sie die empfehlen?“ Fragte sie jemand von der Seite.
„Selbstverständlich.“ Antwortete sie mechanisch und wandte sich der Stimme zu.
Um ein Haar wäre sie zusammengeklappt. Denn er stand vor ihr, er musste sich unbemerkt herangeschlichen haben. Er lächelte nonchalant, mit seinem gegeltem dunklen Haar und dem Schnurbart, der leicht wackelte.
„Eine Zuger Kirschtorte, sehr lecker.“ Flüsterte sie verlegen während er zustimmend nickte. Mit zittrigen Fingern schnitt sie ein Stück und setzte es auf einen Teller. Doch das Tortenstück fiel direkt zur Seite um. Das war ihr das letzte Mal als Azubine passiert. Tränen der Scham schossen ihr in die Augen. Sie murmelte eine Entschuldigung während ihr Teint tomatenrot anlief.
„Auf der Seite liegend mag ich sie am liebsten.“ Versicherte er leicht zweideutig und fragte direkt, ob er sie denn auch auf ein Stück einladen dürfte. Am liebsten hätte sie laut “Ja“ gerufen und wäre mädchenhaft über das Parkett getanzt. Bevor sie antworten konnte, schubste ihre Kollegin sie in seine Richtung.
„Geh nur, du hattest noch keine Pause – dasselbe?“
Sie nickte und folgte ihm an seinen Platz. Verlegen setzte sie sich. Was sollte sie nur mit ihm reden? Sie war nicht gut in diesen Dingen. Er probierte derweil ein Stück und schloss genießerisch seine Augen.
„Köstlich.“ Murmelte er. „Schmeckt wie in Luzern“.
Ein Schweizer ohne Akzent? Ein leichtes Lächeln hob ihre Mundwinkel.
„Sie sind mir übrigens schon länger aufgefallen." Meinte er zwischen zwei Bissen. "Schon oft wollte ich Sie fragen, ob Sie mir nicht Gesellschaft leisten möchten, doch ich wagte es nicht.“
„Warum nicht?“ Fragte sie erstaunt. Ein Mann von Welt wie er und traute sich nicht?
„Sie wirkten immer so unnahbar. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch – nicht unfreundlich. Aber einfach so als seien Sie bereits vergeben, was mich nicht wundern würde, und nicht interessiert. Doch heute war alles anders. Seit ich Ihre Zeilen las.“
Ihr Lächeln wurde breiter und ihr Herz setzte zu einem Hüpfer an.
„Was Sie hier schrieben – eine halbe Seite im Tageblatt. So charmant. Doch es muss Sie ein Vermögen gekostet haben. Ich hoffe doch, ich kann mich revanchieren. Vielleicht mit einem schönen Abendessen?“ Sein Blick brachte sie endgültig zum Schmelzen.
Er faltete die Zeitung auf, so dass sie es lesen konnte. Natürlich kannte sie den Text, lange hatte sie an ihm gefeilt. Hier nun mit ihm zu sitzen, den melodischen Klang seiner Stimme zu hören, sein Aftershave zu riechen. Vielleicht sogar mit der Aussicht auf mehr. Alles hatte sich gelohnt. Während sie die halbseitige Anzeige nochmals überflog
Hallo schöner fremder Mann mit dem dunklen Haar und der Vorliebe für nachtschwarzen Kaffee und diese Zeitung! Die Tortenfee findet Sie unglaublich attraktiv. Bitte sprechen Sie mich doch an, denn ich wage es nicht.
, ergriff er galant ihre Hand.