Drei Herren
„Warum sind eigentlich die Apfelbäume überall in so schlechtem Zustand?“
Hubert stellte die Frage überraschend und durchbrach damit die meditative Ruhe, die seit geschlagenen zwei Stunden auf der Sitzbank herrschte.
Eine Sitzbank, fest installiert am Rande eines Fahrrad- und Spazierwegs, der aus der kleinen Ortschaft heraus in eine grüne Landschaft zwischen Obstbäumen und kleinen Gärten führt. Die drei Herren blickten auf den ruhig vorbeiziehenden Fluss, wenn ihre Köpfe nicht gerade vorbeiziehenden Passanten nach links oder rechts folgten. Ihre GPS-getrackten Rollatoren mit den Werbeaufklebern des Altenpflegestifts „Abendrot“ parkten ordentlich aufgereiht neben der Bank. Der Sommerwind trieb das Titelblatt einer Tageszeitung über den Weg. Kurz erkannte man die 78-jährige Kanzlerin auf dem Titelbild.
„Nun“, setzte Sergei an: „Was passiert wenn heute jemand ein paar Apfelbäume erbt? Vielleicht überlegt sich der Erbe, die Äpfel zu verkaufen. Also sammelt er sie ein, packt sie in Obstkisten und fährt damit völlig blauäugig zum Wochenmarkt. Dort wird er nicht lange stehen, ohne das jemand vom Gewerbeaufsichtsamt vorbei kommt und ihn nach seinem Gewerbeschein fragt. Vielleicht schickt er ihm auch das Gesundheitsamt auf den Hals, denn schließlich handelt es sich um Lebensmittel ...“
„Du hast Recht“, fällt ihm Andreas ins Wort: „Als ich Kind war, gab es im Ort eine kleine Plantage mit Apfelbäumen. Wir hatten auch ein paar Reihen von der Genossenschaft gepachtet. Jedes Jahr verkauften wir kistenweise Äpfel an Leute, die aus der Stadt anreisten, um frisches Obst vom Lande zu kaufen. Die Äpfel waren im Vergleich zu den heutigen Supermarktprodukten eher kleinwüchsig, schmeckten aber so frisch und waren saftiger als die Südfrüchte unserer Pflegerin Mathilda.“
Hubert und Sergei kicherten leise.
„Irgendwann hörte der Verkauf der Äpfel auf, die Plantage wurde geschlossen. Ich weiß bis heute nicht, warum, obwohl unseren Eltern der Erlös aus dem Apfelverkauf ein willkommenes Weihnachtsgeld war. Vielleicht hatte irgend ein Anwalt aus der Stad nach dem Genuss der Äpfel Durchfall und starke Blähungen, daraufhin einen ihm gut bekannten Beamten bei der Gesundheitsbehörde verständigt und die Sache nahm ihren verhängnisvollen Lauf. Dabei hatte der Idiot wahrscheinlich nur vergessen, den Apfel vor dem Verzehr gründlich zu waschen. Jedes Kind weiß, dass man Obst vor dem Futtern waschen sollte ...“
Andreas konnte sich stets eifrig und mit heimlicher Freude entrüsten, während die Hände bäuchlings auf die beachtliche Kugel unter seinem angespannten Sommerhemd trommelten. Mit seinen 81 Jahren wirkte er dabei fast jugendlich engagiert.
Die drei Herren beobachteten einen kleinen, pummeligen Jungen, der mit Zuckerwatte in der Hand auf seinem Kinder-E-Bike seine Mutter überholte, die mit dem Smartphone vor der Nase auf einem Hoverboard über den Radweg schwebte. Jubelnd reckte der Junge die Hand in die Höhe, wobei sich die Zuckerwatte von dem dünnen Holzstängel löste, um im Gesicht der überraschten Mutter kleben zu bleiben. Diese verlor die Kontrolle über ihr Hoverboard und landete mit einem kurzen Schrei im Gebüsche am Rande des Wegs. Der Junge wendete und fuhr den Weg zurück, lachend vorbei an seiner Mutter, um irgendjemand in weiter Ferne begeistert etwas zuzurufen. Die Sprache des Kindes verstanden die drei Herren nicht.
„Ob wir der Dame helfen sollten?“, fragte Hubert.
„Ach was, die wird schon“, winkte Sergei ab: „Aber habt ihr den Arschengel gesehen?“
„Du meinst sicher Hüftgeweih?“, wunderte sich Andreas.
„Die Dame war tätowiert?“, wollte Hubert wissen, dessen Sehkraft nicht mehr die beste war.
„Nicht die Dame – das Kind!“ Sergei schüttelte den Kopf.
„Seltsame Zeiten“, seufzte Hubert leise und nahm einen Schluck vom Blasen- und Nierentee aus seinem mitgebrachten Thermobecher.
Währenddessen quälte sich die Frau aus dem Gebüsch, warf das gebrochene Hoverboard in die Hecke und ärgerte sich lautstark über das zerborstene Display ihres Smartphones. Ihrem heftig blutenden Knie und der aufgerissenen Bluse, die einen Büstenhalter mit aufgedruckten Hitlerbärtchen sichtbar werden ließ, schenkte sie dabei keine Beachtung. Fluchend folgte sie dem Weg ihres verzogenen Rotzlöffels.
Hubert blickte nach links zu einer zirka fünfzig Meter entfernten Bank, wo eine Gruppe vom Menschen undefinierbaren Geschlechts eine rauchende E-Zigarette kreisen ließ, die an einen enorm großen Vorratsbehälter gekoppelt war:
„Ob man das moderne Zeug rauchen kann?“
„Keine Ahnung, ich rieche ja nix!“ antwortete Sergei, dessen Geruchssinn seit dem zweiten Schlaganfall so gut wie abgestorben war.
Ein uniformierter Beamter schloss sich der rauchenden Gruppe an und nahm einen tiefen Zug.
„Tsstsstss, diese Ordnungshüter“, schüttelte Andreas den Kopf.
„Man hätte das gute Gras aus den 1980er Jahren archivieren sollen“, träumte Hubert vor sich hin.
Auf dem Fluss tuckerte ein großes Frachtschiff dahin. Die riesige Ladefläche war voll mit Autos, den verbliebenen Relikten des motorisierten Individualverkehrs auf ihrem Weg zur letzten Ruhestätte.
„Schaut sie euch an, die alten Karren. Ausrangiert wie wir. Altes Eisen für den Schrottplatz der Geschichte!“ Sergei seufzte.
„Voll philosophisch ...“, kicherte Andreas.
„Besser philosophisch als pädophil.“ Ein trockener Kommentar von Hubert.
Aus dem Gebüsch hinter der Bank der drei Herren konnte man zunehmendes Stöhnen von Mann und Frau vernehmen:
„Ja, ja, ja, so geil, mach weiter ...“, flüsterte die Unbekannte lauter als gewollt.
„Nimm' ihn, tief und hart ...“, stöhnte er aufgeregt.
Die drei Herren lachten auf. Das Paar fühlte sich offensichtlich ertappt und die männliche Stimme rief aus dem Gebüsch:
„Sorry, aber wir wissen sonst nicht wohin. Unsere Kinder haben im Homeschooling alle Zimmer belegt und vögeln im familiären Klassenzimmer ist einfach nicht sehr anregend!“
„Außer Sexualkunde ist an der Reihe“, rief Hubert dem Gebüsch lachend zu.
„Hatten die Plagen schon in der ersten Klasse ...“, verlautete die Stimme der unbekannten Gefickten.
„Sagt mal Jungs“, eröffnete Sergei eine Frage, „wie steht es eigentlich mit euren Ruten? Oder steht da nichts mehr?“
„Erektionen werden maßlos überschätzt“, meinte Hubert lapidar.
„Impotenz ist nur vorübergehend“, grinste Sergei. „Ich kann euch da was erzählen, also ...“
„NEIN!“, stoppten ihn die beiden Freunde.
„Impotent ist ein Mann erst, wenn die Zunge gelähmt und die Finger steif von der Gicht sind!“
Ein lautes, weibliches Stöhnen erklang aus dem Gebüsch: „Sti-ii-iii-mmm-mmm-t!“
An den drei Rollatoren der Herren leuchteten kleine, blaue LED-Leuchten auf und ein penetranter Pfeifton erklang dreistimmig.
„Meine Herren, lasst und aufbrechen“. Andreas erhob sich.
„Auf zum Abendbrot im Abendrot“, reimte Hubert.
„Mögen Mathildas Früchte mit uns sein“, betete Sergei.
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