Beamen ist nichts für Anfänger
Maestro Schnufax staunte immer wieder über die neuen Techniken, die der menschliche Entwicklungsgeist in den modernen Alltag brachte. Am Ende des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts hatte es die Menschheit geschafft, das Zeitalter des Anthropozän dem Ende zuzuführen, denn die Rasse Mensch hatte sich mittlerweile gesundgeschrumpft und anderen Lebewesen neue Räume auf dem Planeten Erde überlassen. Trotzdem blieb der menschliche Geist unübertroffen in ihrem irren Erfindungsgeist.
„Wie schön es doch ist, sich einfach an einen anderen Ort beamen zu können“, freute sich Schnufax in Erwartung auf ein Treffen mit seiner Lustpartnerin. Schnufax war nicht mehr der Jüngste unter den wenigen Männern, die auf dieser kleinen Insel lebten. Aber die Medizin machte es möglich, vitale Körperfunktionen bis ins hohe Alter, weit über die 100 hinaus, zu erhalten. Der Körper wurde zu einer durch leichten Ersatzteilaustausch, dauerhaft funktionierenden Biomaschine. Der Wechsel eines Körperteils von alt zu neu war leichter, als eine Tüte Brausepulver in ein Glas Sekt zu füllen, um es als sprudelndes Modegesöff in den Rachen zu kippen.
Das Beamen war trotzdem nicht so einfach, wie man es sich im Atomzeitalter vorgestellt hatte. Man konnte nicht an einem beliebigen Ort landen, man musste fest installierte Beamzellen nutzen. Kleine, gelbe Häuschen, die von Telekommunikationsunternehmen aufgestellt wurden. Beamen war sehr teuer. Um Gebühren zu sparen, konnte man auf die Übertragung einiger Körperteile verzichten. Wer sich auf den Weg machte, um an einem anderen Ort eine sitzende Tätigkeit auszuführen, wozu sollte er seine Beine mitnehmen? Für die letzte Strecke standen an den Beamzellen elektrische Rollstühle bereit, zurückgelassene Gliedmaßen wurden von der vollautomatisierten Sendezelle in tiefgekühlten, personalisierten Schließfächern aufbewahrt. Kleidung wurde ebenso zurückgelassen, aber da alle Menschen gleich uniformiert waren, konnte man in der Empfangszelle neue Kleidung anziehen.
Schnufax hätte auch seine Segelyacht für die Strecke von Klein-Stuttgart nach Insel-Heilbronn nehmen können, denn zusammenhängende Seenplatten gab es zwischen den vielen Betonwüsten genug. Wäre da nicht die unverstellbare, lustvolle und kaum zu bändigende Erwartung vor dem Wiedersehen mit seiner Lustpartnerin Sakratella gewesen. Die Ungeduld war nicht zu bremsen. Außerdem stand es um das Leinentuch seiner Segel nicht zum besten, die unter den letzten Sommerstürmen stark gelitten hatten. So begab sich der alte Herr wohlgemut in die Sendezelle und stellte die Funktionen des Beamers sorgfältig ein.
„Sakratella, ich komme“, murmelte er in seinen grauen Bart. „Und wie ich kommen werde!“ Schnufax grinste lüstern, im Gedanken an die blutroten Perlen, welche die Nippel seiner heißgeliebten Lustpartnerin zierten.
Er drückte den Sensor und verschwand im gleißenden Licht der brausenden Beamzelle.
Auf Insel-Heilbronn leuchte eine Beamzelle auf. Ein kurzes Strahlen, ähnlich einem Kugelblitz, mehr nicht. Schnufax atmete auf. Wie so oft nach dem Beamen verspürte er einen verstärkten Harndrang. Eine typische Erscheinung, weshalb in der Nähe von Beamzellen stets öffentliche Toiletten aufgebaut wurden. Noch etwas außer Atem, klopfte Schnufax sich ab und sah sich nach der neuen Kleidung um, die gerade in einem sich öffnenden Schrankfach ausgespuckt wurde. Als er sich die Shorts hochzog und bereits auf einen ausführlichen Gang auf die Toilette freute, stellte er erschrocken fest:
„Scheiße, Schwanz vergessen!“
Da, wo sonst sein mächtiges Gehänge prangte, herrschte jetzt gähnende Leere. Wie zum Teufel sollte er jetzt pinkeln gehen? Kurz dachte er darüber nach, sich im Beamer einen Ersatzschwanz bieten zu lassen, vielleicht hatte ja jemand sein gutes Stück zurückgelassen? Manchmal machte die Maschine sogar Sonderangebote, um vergessene und nicht abgeholte Körperteile loszuwerden. Schnufax wollte aber kein anderes Geschlechtsteil als sein eigenes, auf das er so stolz war. Die Biotechnik war nicht so weit, dass er sich ein fremdes Teil nur zum Wasserlassen hätte leihen können. Er müsste es für mindestens drei Tage tragen, um es nicht zu ruinieren, und was sollte er in Sakratella mit der Erektion eines Fremden?
Inzwischen angekleidet, wollte er aber zunächst das Problem seiner bis zum Platzen gefüllten Blase lösen, ohne auf die Sammlung zurückgelassener Glieder zurückzugreifen. Sollte er die Damentoilette nutzen? Oder die Toilette für Diverse? Nein, er war irgendwie traditionell eingestellt und wollte im Stehen pinkeln. Die Evolution hatte es nie geschafft, diese Angewohnheit der männlichen Humanoiden in der Geschichte der Menschheit verschwinden zu lassen. Trotzdem sah Schnufax keine andere Möglichkeit:
Er mied die öffentlich Toilette, zog sich die Hosen bis unter die Knie und hockte sich hinter ein mageres Gebüsche in der Nähe der Beamzelle. Verschämt hörte er den plätschernden Strahl seines warmen Urins und kam sich vor wie eine Frau. Ein peinlicher Gedanke. Zum Glück ist es bereits dunkel, dachte er sich und spürte die erlösende Wirkung einer sich leerenden Blase.
Nachdem er sich die Hose erleichtert hochgezogen und das Gebüsch verlassen hatte, fiel ihm sein Freund Schlomax ein. Geschwind fasste er sich mit der linken Hand an das linke Ohr und flüsterte:
„Verbinden – Schlomax – privat“.
Umgehend baute sich vor ihm das leuchtende Hologramm seines Freundes auf:
„Schnufax, mein einziger Freund. Was gibt es zu berichten zu so später Stunde?“
„Hör zu und behalte das für Dich ...“ begann dieser seine Erzählung.
Schlomax wäre beinahe ausgeflippt vor Lachen:
„Schöner Schlamassel! Und jetzt soll ich dir deinen Penis nachschicken?“
„Ja bitte, das würde mich sehr freuen“, meinte Schnufax.
„Du hast nur eine Sache nicht bedacht, mein Lieber“, gab Schlomax zu bedenken:
„Das gute Stück ist jetzt bereits tiefgefroren. Bis der dir bei deiner heißgeliebten Sakratella lustvolle Dienste leisten kann, ist deine Ausgangszeit längst abgelaufen.“
Daran hatte Schnufax nicht gedacht. Aufgrund der hohe Virendichte in der viel zu dünnen Luft, hatte die Zentralregierung der süddeutschen Seenländer die Ausgangszeiten und Besuche anderer Stadtinseln stark eingeschränkt.
„Identifikation bitte!“
Eine herrische Stimme riss Schnufax aus seinen Gedanken. Er blickte sich um und sah direkt in die stahlblauen Augen einer sportlichen Frau, deren drahtiger Körper in der rotgrün gestreiften Uniform der Ordnungshüter steckte. Die Uniform lag eng an ihrem Körper und die Beule in ihrem Schritt schürte die Vermutung, das er es mit keiner Frau zu tun hatte, sondern einem „ihm“ oder einem „etwas“. Mit einem Laserstift tastete die Uniformierte die Iris seines rechten Auges ab.
„Danke, Herr Schnufax 7649184882“. Sie räusperte sich:
„Was haben sie vorhin in diesem Gebüsch gemacht? Sie wissen, dass öffentliches Urinieren streng verboten ist. Und warum pinkeln sie wie eine Frau?“
Schnufax errötete, doch es blieb ihm nichts weiter übrig, als seine Geschichte zu erzählen. Die unglaublichsten Geschichten waren oft die besten Ausreden. Eine Weisheit, die er bereits von seinem Vater gelernt hatte.
Die Beamtin oder der Beamte oder das Beamte konnte ein belustigtes Blitzen in den Augen nicht unterdrücken.
„Eigentlich müsste ich sie mit auf die Wache nehmen, um eine einprägsame Belehrung durchzuführen. Oder ihnen zumindest eine saftige Strafe aufbrummen. Doch ich will mal nicht so kleinlich sein. Ich weiß nur zu gut, wie man sich 'ohne' fühlt. Viel zu lange musste ich auf meinen warten ...“
Beim letzten Satz griff sie sich beherzt in den Schritt und umklammerte die Beule, hinter der Schnufax das richtige Körperteil vermutete.
„Aber einen Tipp gebe ich ihnen mit, bevor ich sie zu ihrer Lustpartnerin entlasse“, hob sie oder er oder es den moralischen Finger:
„Ein echter Mann ist erst impotent, wenn er Gicht in den Finger und Zungenlähmung hat!“
Schnufax erlebte eine rauschende Nacht voller Sinnlichkeit mit seiner angebeteten Sakratella. Sie sah es ihm nach, dass er seinen Penis vergessen hatte und genoss seine gerade erwachten Künste der Lustbereitung. Mit Zunge, Lippen, Händen und weiteren Körperteilen jagte er sie durch tiefe Täler und hohe Gipfel der körperlichen Lust.
Am nächsten Tag gab er seinem Freund Schlomax eine Flasche Wein aus, während dieser ihm dabei half, die Segel seiner Yacht wieder fit zu machen.
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impotentia 13.11.2020