Sehnsucht
Sehnsucht
© 4-2017 by TRB
Die weitgereisten Leute, die können viel erzählen. Die klugen Leute, die ebenfalls. Die weisen Menschen haben viel zu sagen. Die Dummen erzählen einfach nur. Sie sehnen sich nach Aufmerksamkeit.
Der David hat eine andere Sehnsucht. Ich vermute, das ist wie ein Kainsmal. Es ist Schicksal, denn es kann unmöglich dem Lebenskarussell entsprungen sein. David hatte eine sichere, behütete Kindheit. Und doch zieht es ihn in die Ferne. Fort von hier.
Erscheint ein Regenbogen am Firmament, verklärt sich sein Blick und er ist im Geiste ganz woanders. An fremden Gestaden, in unerbittlichem Sand, unter großen Palmen. Er streichelt im Geiste Jaguare im brasilianischen Regenwald, spricht mit Nilkrokodilen und lässt sich von den frechen Affen in Angkor in Kambodscha necken.
Und ja, er war schon in Angkor. Er war schon in Chichen itza, in New York, Shanghai, Rumänien, Israel, Ägypten… seine Urlaube gleichen einem Staffellauf, ein Land wird nahtlos ans nächste gereiht und jeder Urlaubstag bis zur Neige ausgenutzt. Gut, David ist Arzt, er kann es sich leisten. Das Klangbild seiner Lebensphilosophie ist nicht von Überfluss gequält, aber auch nicht von Meister Schmalhans.
David hat eine besonders schwere Form des Fernwehs. Ich verstehe das nicht. Was treibt ihn an? Das Neue? Ist es der Trieb, Neues zu erforschen? Nein, sicherlich nicht. Menschen mit Fernweh in dieser schweren Form bauen keine Häuser, heiraten und haben vier Kinder.
Ist es vielleicht eine Ahnung, dass man kein schönes Zuhause hat? Eher nicht. David repariert an den Wochenenden, sofern keine Städtereise geplant ist, leidenschaftlich gern Motorräder. Er bastelt gern an seinem T2-Bus, den er, nun… campingtechnisch ausgebaut hat. Nicht für die Familie, wohlgemerkt, denn ein Bully ist dazu viel zu klein. Er geht notfalls auch allein auf Reisen. Also kann es ein schlimmes Zuhause nicht sein. Eine liebevolle Frau, die ihm alle Freiheiten lässt, Kinder die nicht die Präsenz des Vaters einfordern, nein, zuhause geht es ihm gut.
Ich fragte ihn einmal (das war eine fixe Idee von mir, dass er vielleicht auf einer kulinarischen Reise wäre), was es denn in all den Ländern köstlich-kulinarisches zu essen gab. Er sah mich total verständnislos an und wusste nicht, wovon ich sprach. Essen ist für ihn Nahrungsmittelaufnahme. Nicht mehr und nicht weniger. Er sieht auch nicht gern sein Spiegelbild, sonnt sich nicht in Großartigkeit. Immerhin gibt es ja Menschen wie die olle Tante Lotte (Gott hab sie selig), die, erwähnte man auch nur beiläufig eine Stadt, ein Land oder einen Landstrich, sofort lautstark ins Gespräch einfiel:
„Kenn ich, kenn ich, da war ich auch schon. Allein die Uferpromenade war….“
So war sie. Muss ich erwähnen, dass ich sie nicht mochte? Ich musste damals grinsen, als die Nachricht ihres Ablebens ins Haus flatterte.
„Na los, Lotte. Da, wohin du jetzt gehst, warst du noch nicht! Und erzählen wirst du das auch niemandem.“
Aber David? Er ist übrigens schon wieder auf Tour. Osterferien in Finland. Gerade kam die Nachricht, dass die Silja-Line in Turkku angelegt hat. Was will er da? Finland besteht zu 4% aus Elchen, zu 32% aus Blockhäusern und der Rest ist Wald.
Vielleicht verstehe ich es nicht, weil ich an den Determinismus glaube. Nichts geschieht umsonst. Und alle Taten der Menschen sind die Folge der vergangenen Dinge und die Wege in die Zukunft sind zwar vorherbestimmt, aber in gewissem Rahmen beeinflussbar. Das ist die Freiheit, die ich meine. Der Spruch: „Frei ist, wenn man will, was man soll“ wurde scheinbar (ich weiß nicht mehr von wem; Rousseau? Descartes?) aus Schopenhauers Ausspruch: "Der Mensch kann tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will" entlehnt
Also hätte demnach Davids Weltenbummelei einen tieferen Sinn, den zu ergründen ich wahrlich nicht intelligent genug bin. Daher vielleicht das Staunen über seine… Reiserei. Weil ich es nicht verstehe. Oder ich verstehe nicht, was mich umtreibt. Gut, als Eisdealer musste ich quasi im Winter nach Italien. Als Soldat musste ich nach Kanada, Texas, Somalia. Damals in der Chemie-Firma musste ich nach Brasilien und Portugal. Ich hatte mir zwar den Beruf ausgesucht, aber die „Reisen“ waren Sachzwänge und nicht immer mit Positivem besetzt. Angeschossen in Afrika, geschunden in Texas, mit dem Leben bedroht in Brasilien (Hand hoch: Wer hatte schonmal in einem Taxi eine Automatik an der Schläfe?). Ausland und Ferne sind bei mir mit Gefahr konnotiert. Ganz das Gegenteil zu David.
Und wir sind so ungleich. Wenn ich 100 Km von zuhause weg bin, möchte ich heim. Ich sehne mich nach meinen Kätzchen. Ich mag meinen Balkon, meine kleine Welt. Mein Umfeld, das ich unter Kontrolle habe. Ich sehne mich nach meinem Apfelbaum, der vor meinem Balkon wohnt. Es ist ein freundlicher Baum, ein hübscher Baum. Gerade erblüht er und meine Kamera steht bereit. So ein hübscher Kerl.
Und ich warte jedes Jahr auf einen ganz besonderen Morgen. Es ist wie Sakura, die japanische Kirschblüte. Der Baum wird schneeweiß. Alle Blüten sind weit offen und der nette Baum reckt sich, streckt sich und hat gute Laune. Und ich bin sicher, dass er weiß, dass meine Gefühle bei ihm sind. Es gibt einen Morgen im Jahr, dann ist der Baum einfach nur prächtig. Man öffnet die Augen und schaut in sein blühendes Gesicht. Alle Vögel singen, zwitschern, pfeifen und jubilieren. Das ist mein alljährliches Memento Mori. Und ich trage es im Herzen und in meinen Gedanken, jedes Mal, wenn ich woanders bin. Ich finde Trost am Gedanken an meinen Baum, an die Vögel, an meine Tiere. Es bedeutet Frieden für mich.
Das ist meine Sehnsucht.
Andere wollen weg, ich will heim.
Ich gehe mit Wucht
aber immer allein.
Tom