Zur Poesie des friedvollen Kriegers
Das englische Original des von jjk_61 zitierten Gedichts stammt nicht von Lao-Tse, sondern von Dan Millman und heisst "The Way of the Peaceful Warrior". Es stammt vermutlich aus einem seiner Bücher, entweder des Buchs mit dem Titel des Gedichts (1980), oder aus "No ordinary Moments".
The Way of the Peaceful Warrior ist ein autobiografischer Roman, der 2006 auch als Film erschien – ob auch in Deutschland, weiss ich nicht. Auskunft gibt die englische Wikipedia.
Mit Lao-Tse hat das Gedicht nur sehr indirekt zu tun. Im 15. Abschnitt des Tao Te King, in dem es um die alten Meister geht, gibt es eine Passage über das Trübe des Wassers
"Wer kann das Trübe
durch Ruhe allmählich klären?
Wer kann die Ruhe
durch Bewegung allmählich beleben?"
Millmans Gedicht scheint mir eine Mischung aus taoistischem Gedankengut und solchem aus Carlos Castanedas Büchern, besonders "Don Juan – Reise nach Ixtlan", von dem der Gedanke des Kriegers stammt. Der Begriff des Kriegers hat übrigens nichts mit dem Irak-Krieg zu tun, sondern verweist auf eine
innere Haltung und die Art des Handelns, die ein Nicht-Handeln ist. Insofern ist der "Krieger" so ungefähr das totale Gegenbild zu all den heutigen Akteuren, die wir mit Krieg und Streit und Kampf assoziieren mögen.
Mit den von Lethte aufgebrachten Fragen steht das Gedicht nur in einem sehr unspezifischen Zusammenhang. Es skizziert eine Lebenshaltung, deren höchstes Ziel ist, sich in den Gang der Welt einzufügen und nicht durch den Willen dagegen anzukämpfen. Er steht jenseits aller Egoismen und Altruismen, er steht auch nicht "über" dem Leben, sondern gleitet auf den Wellen des Lebens dahin wie ein kleines Papierfaltboot auf einem Bach.
"Er nutzt alle Situationen, versäumt nichts."
Dies ist das glatte Gegenteil von Egoismus. Der Egoist nutzt keine Situationen, die ihm das Leben zuspielt, sondern versucht dem Leben seinen Willen aufzuprägen und Situationen zu
schaffen, die seinen egoistischen Zielen dienen.
Der Satz wird verständlicher, wenn wir ein paar Zeilen weiter oben lesen: "Regungslos harrt er aus bis zum rechten Augenblick, in dem
die richtige Handlung sich ganz von selbst ergibt."
Der Krieger übt sich in totaler Willenlosigkeit, um so seine Aufmerksamkeit schärfen und seine Wachheit verstärken zu können. Nur mit aufmerksamem Blick entdecken wir, welche "Situationen" uns das Leben zuspielt, und können uns ihnen gemäss verhalten.
Im Hintergrund steht die Einsicht, dass das Leben uns mit allem versorgt, was wir brauchen; wir müssen nichts dafür "wollen", wir müssen nur aufmerksam sein und aufgeben, uns dagegen zu sperren.
"Er ist einfach in seinem Denken und Tun".
Die "Einfachheit" (Simplicity) ist ebenfalls das glatte Gegenteil von "Primitivität".
Wir sind diejenigen, die oftmals alles viel zu kompliziert machen oder empfinden oder denken.
Wir sind diejenigen, die im Wirrwarr unserer Gefühle, Ängste, unseres Wollens und unseren Sorgen vor der Zukunft unfähig sind, klar zu sehen und adäquat zu handeln. Der Krieger ist "einfach", weil er aus seiner inneren Ruhe heraus angstfrei sich im Augenblick bewegen kann.
"..und kehrt zur Quelle allen Seins zurück."
"Zurück auf die Bäume" war eine nette Polemik, Lethe. Der Mensch lebte nie auf den Bäumen, und die Affen sind nicht unsere Vorfahren. Im Englischen heisst der Satz: Die Krieger "return to the source of being". Der Ursprung unseres Seins hat nichts mit einer gedachten darwinistischen Herkunft des menschlichen Leibes vor 4 Millionen Jahren zu tun, sondern meint das, worauf wir
unser Selbstsein gründen, also das, woher es kommt, dass wir zu uns "Ich" sagen, uns als leidenden, fühlende, handelnde Menschenwesen überhaupt selbst verstehen können. Dieser Ursprung ist nichts Lokalisierbares, sondern unser tägliches, sekündliches Dasein ruht je und schon immer auf diesem Ursprung auf.
Zurückkehren kann man zu etwas nur, wenn man zuvor weggegangen ist. Der Satz sagt, dass wir gewöhnlich so sind, dass wir diesen Ursprungs nicht eingedenk sind. Unser Ego spreizt sich auf und
verdeckt den Ursprung unseres Seins. Mit unserem Ego kommt unser Wollen in die Welt, und dieses führt zu Leiden.
Indem der Krieger sich im ego-losen, "einfachen" Denken und Tun übt, nähert er sich wieder seinem Ursprung. Im Ursprung gibt es keine Trennung zwischen Ich und Welt (Ehemann, BDSM.-Spielpartner etc.). Ohne Trennung gibt es auch keine Konflikte und keinen Unfrieden.
Der Krieger käme nie in den von dir, Lethe, geschilderten Konflikt zwischen Ehe, Kinder und BDSM-Bedürfnis, weil er die Herrschaft seiner sexuellen Lust überwunden hat. Er würde wohl in der Ehe wirken, solange dieses Wirken "ansteht" und hilfreich ist, und er würde eine Session spielen, wenn ein Partner dies braucht. Der Krieger hat keine Angst, etwas zu versäumen, weil er gelernt hat, dass es in diesem Leben eh' nichts zu versäumen gibt. Der Krieger steht jenseits der Moral, weil er moralisch handelt, wenn dies "ansteht", und ebenso sich um Moral nicht kümmert, wenn eine Woge des Lebens ihn trifft, die Anderes erfordert.
Wir sehen, dass das Idealbild des Kriegers mit den meisten von uns nichts zu tun hat, weil wir von einer solchen Haltung meilenweit entfernt sind. Es steht wie ein leuchtender Stern über uns, als Zeichen, welche Möglichkeiten unser Menschsein uns eröffnen kann, wenn wir uns auf den Weg zu diesem Ideal machen. Der Gewinn des Wegs liegt in dem Verblassen von Ängsten, in der Verringerung des Leidens und im Zugewinn inneren Friedens.
stephensson
art_of_pain