"Jeder Weg hat ein Ziel"
Sie fühlte sich erdrückt zu Hause und beschloss, einen kleinen Spaziergang zu machen. Die Schlüssel geschnappt und raus aus dem Haus. Bedacht machte sie sich auf den Weg und setzte einen Fuß vor den anderen jedoch ziellos. Eine Jacke brauchte sie nicht, denn es war Sommer und Luft flirrte vor Hitze. Der orientierungslose Weg führte sie erst durch enge Gassen und Straßen, dann an Bäumen und Wiesen vorbei, an kleinen Bächlein, Seen und schließlich in die Natur. Sie verlor ihre Gedanken an Daheim und träumte von einem neuen Leben im Glück. Von einem Leben, in dem man sie liebte, in dem sie lieben durfte und, in dem sie ganz einfach Mensch sein durfte. Mensch mit all seinen Stärken und Schwächen.
Ihre Schritte wurden immer leichter und freier. Irgendwann hüllte die Dunkelheit sie ein und die Luft wurde kühler. Sie spürte es kaum und lief immer weiter, ohne müde zu werden. Ihre Gedanken waren frei und sie genoss die Weite der Natur um sich herum.
Sie lief in den Morgen und wieder in den Abend. Sie lief von Montag bis Dienstag, von Juli bis August.
Irgendwann wurde es kühler und Regen wusch ihr Haar. Im Wandern hatte sie die Zeit vergessen und inzwischen hielt der Herbst seinen Einzug. Die Blätter der Bäume fielen herab und die Tiere bereiteten sich auf den nahenden Winter vor. Doch sie lief einfach weiter und folgte ihren Träumen, die inzwischen so frei waren, wie die Lerche am Himmel.
Noch nie zuvor fühlte sie sich so wohl und frei. Und obwohl sie ganz alleine lief, war sie doch nicht einsam. Ihre Gedanken waren bei ihr und sie fühlte, das irgendwo in der Ferne eine Seele auf sie wartete. Und diese Seele wollte sie finden, um nie wieder einsam zu sein.
Die ersten Schneeflocken tanzten am Himmel und es wurde bitterkalt. Der Winter hatte seinen Einzug gehalten, doch sie spürte es nicht. Sie lief nach wie vor ihrer ungewissen Zukunft entgegen. Die Bäume waren längst kahl und die Natur trist. So trist, wie ihr Leben, das sie vor einigen Monaten verlassen hatte.
Inzwischen hatte sie einen kleinen Begleiter, der ihr auf dem Weg folgte. Es war ein kleiner Vogel, der immer wieder voraus flog, um den rechten Weg zu finden. Zum Dank durfte sich der kleine Freund auf ihrer Schulter ausruhen, wenn er müde war. Nun war sie zwar immer noch alleine, aber nicht mehr einsam.
Sie hatte auf ihrem langen Weg einen ersten Freund gefunden. Einen wahren Freund, der ihr völlig selbstlos folgte und bei ihr blieb.
Irgendwann flog der kleine Freund voraus und setzte sich am Wegrand nieder. Sie schaute ihrem Freund nach und senkte den Kopf. Ein kleines Schneeglöckchen hatte sich seinen Weg durch die harte Erde ans Tageslicht gesucht.
Sie betrachtete die zarte Blume und lächelte, wusste sie doch nun, dass der Frühling nicht mehr fern war.
Sie lief mit ihrem kleinen Freund weiter und allmählich sprangen die zarten Knospen der Bäume und Blumen auf und machten die Welt bunter.
Sie wurde ganz ruhig und wusste, dass sie ihrem Ziel immer näher kam. Längst war ihr Herz und ihre Seele völlig frei und rein. Alle Schuld, alle Traurigkeit, alle Hoffnungslosigkeit hatte sie auf dem Weg mittlerweile hinter sich zurück gelassen.
Plötzlich flog ihr kleiner Freund weit voraus, so dass sie ihn kaum noch sehen konnte. Wenig später kehrte er aufgeregt zurück und flog erneut voraus. Sie folgte dem kleinen Freund und ihr Weg führte sie über eine große Wiese. Am Ende dieser Wiese stand ein alter, einsamer Baum an einem See. Unter diesem Baum saß ein Mann, der gedankenverloren auf den See hinaus starrte. Sie ging auf den Mann zu und blieb dicht neben ihm stehen. Der Mann erhob sich, schaute sie lächelnd an und nahm zärtlich ihre Hand. "Ich habe gewusst, das Dich unser Schicksal hier herführen würde, meine Seele", sagte er leise. Er nahm sie zärtlich in den Arm und die beiden setzten sich eng aneinander gedrückt an den alten Baumstamm, um gemeinsam auf das Wasser zu schauen. Sie redeten kaum miteinander, den ihre Seelen verstanden sich auch ohne Worte.
Der kleine Vogel setzte sich ein letztes Mal auf ihre Schulter und piepste ihr ins Ohr: "Du hast Deine Seele gefunden!"
Der Mann fütterte den kleinen Vogel mit einigen Körnern: " Danke kleiner Freund! Es ist schön wahre Freunde zu haben!" hörte sie ihn sagen..........
Sie nahm die Schlüssel aus ihrer Tasche, ging an das Ufer des Sees und warf sie hinein: "Ich bin daheim angekommen!"