Das liebe und sehr alte Thema loslassen
Machen wir es in Form einer fiktiven Geschichte.
Da verflogen nun die Jahre, eins nach dem anderen. Ein jedes anders als das vorherige und doch stets in ähnlichen Bahnen. Der Alltag gepflastert von relativ weltlichen Aufgaben, die es zu bewältigen gab.
Und doch waren nur wenige dieser Hürden vorhersehbar. So sehr wir auch versuchten präventiv vorzubeugen, meist kam es doch anders.
Gib acht, so sagten die "Alten" immer und immer wieder.
Wenn ich nun hier sitze und die Augen schließe, erinnere ich mich wieder an das kleine Kind. Viele Jahre ist es her, fast schon vergessen. Doch je mehr ich diese Situation von damals wirken lasse, umso deutlicher und greifbarer wird sie. Als ob´s gestern gewesen war.
Da saß das kleine Kind am Ufer des schmalen dahin plätschernden Flusses. Es schien als ob das Kleine mit sich zu ringen scheint.
Der Sommer damals war einer jener Sommer, nach denen wir uns heute noch sehen. Er begann langsam sich steigernd, wie üblich zu Ostern. Seinen Höhepunkt erreichte er mit voller Wärme, Hitze und Intensität in den Schulsommerferien.
Diese Ferien verbrachte das Kind am Lande, nicht wie sonst am Meer. Das Geschrei war anfangs groß. Sehr beleidigt fuhr das Kind widerwillig mit aufs Land.
Und doch verflog dieser Widerwille sehr schnell. Die Natur bietet soviel Anreize und energetische Momente, hier bleibt keine Zeit für bockiges Verhalten.
Da saß es nun das Kind. Seinen Stock in der Hand, am Rande des Flusses. Der Stock war sorgfältig ausgesucht. Es war nicht irgendein Stock. Es war sein Stock. Sein eigener. Er gehörte dem Kind ganz alleine. Nichts solle sie trennen, das schwor sich das Kind. Er wird mich immer begleiten, auf Schritt und Tritt. Auch wenn er nicht immer ein so guter Begleiter war, das Kind achtete mit Argusaugen auf seinen Stock. Aber nun saß es da. Der Fluss plätscherte unaufhörlich an ihm vorbei. So als ob er kein Wässerchen trüben könnte, als ob es keine andere Aufgabe im Leben gäbe, als zu fließen.
Was wäre, wenn der Fluss keine Lust mehr hätte? Was wäre, wenn der Fluss einfach aufhören würde? Wie würde der Fluss das anfangen und vor allem was wäre dann?
So ein Quatsch, denkt sich das Kind. Der Fluss ist ja aus Wasser, also ist das Wasser der Fluss. Ob das der Fluss weiß, fragt sich das Kind. Irgendwie ist es schön, dass er fließt und nicht aufhört. Haben so viele Menschen, Tiere und die Natur etwas davon. Er macht einfach seinen Job, ohne zu klagen, murren und meckern.
Was wäre, wenn ich meinem Stock nun seine Freiheit schenken würde? Was wäre, wenn ich ihn in den Fluss werfen würde? Wäre er dann glücklich? Wäre er dann frei? Ginge es ihm schlecht?
Ich wäre sehr traurig, mir ginge es schlecht, fühlte das Kind. Alle Gedanken kreisten nur noch um das Kind selbst.
So rang das Kind mit sich, den ans Herz gewonnenen Stock loszulassen, ihm die Freiheit zu schenken.
Das Kind überlegte sehr lange hin und her. Ein Wechselspiel aus Verstand und Herz.
Der Verstand versuchte ihr klar zu machen, dass das Leben nie mehr so sein würde wie zuvor. Der Stock für immer verloren wäre und dies einen tiefen Schmerz hinterlassen würde.
Das Herz aber versprach Freude und tiefe Zufriedenheit. Nichts ist von Dauer, alles ist im Fluss, sprach das Herz. Alles kommt und geht. Erfreue dich in der Sekunde, wo du es erlebst, dann aber lasse los. Nur wer loslässt ist bereit für Neues.
Das überzeugte das Kind und es entließ den Stock in Wasser. Es rief ihm hinter her: Machs gut mein lieber Stock. Vielleicht findet dich ein anderer und hat viel Freude mit dir. Danke für die schöne Zeit.
Das Kind hat losgelassen und damit sich selbst die innere Freiheit geschenkt.
Gib acht, sagten die Alten. Wir haben dies nur falsch verstanden, es ging nicht um Furcht, ums aufpassen, ums verhindern von Unvermeidlichem. Sei achtsam, wollten sie uns sagen. Lebe in Achtsamkeit. Mit dir, mit deiner Umwelt, mit deinen Freunden, mit deinem Partner, mit deinem Tier, mit allem, sei achtsam und achte jeden Moment.
Loslassen ist schon deshalb so schwer, weil wir Angst vor dem Ungewissen haben. Vor jenem, worauf wir nicht vorbereitet sind, wofür es keine Pläne und Garantien gibt. Vor dem Fluss des Lebens.
Wenn wir heute zurück blicken, wie viel von dieser Unbeschwertheit leben wir noch so bewusst und freizügig? Wieso haben wir vergessen, dass wir uns selbst die Freiheit schenken, wenn wir loslassen. Wie blind sind wir heute geworden, dass wir nicht mehr wissen, dass wir in uns loslassen verlernt haben? Das Leben schenkt uns immer wieder aufs Neue interessante Begegnungen, Erlebnisse und Momente, die wir versuchen auf ewig zu konservieren.
Statt sie im IST zu genießen, um dann wieder mit Freude loszulassen, handeln wir noch immer gegen uns selbst. Wir sind es, die uns selbst nicht loslassen wollen.
Zeit wirds, wenn nicht jetzt, wann dann?
hg
D.