Ich glaube, der Punkt ist: wenn man erkannt hat, daß Liebe für viele Menschen etwas sehr unterschiedliches bedeuten kann, dann kann man auch flexibel werden, zu erfragen, was der andere wirklich möchte. Das setzt natürlich wiederum zwei Dinge voraus:
a) die Schlagworte "Treue", "Geborgenheit", "befriedigendes Sexleben" bedeuten AUCH verschiedene Dinge für jeden einzelnen, da gibt es kein "Ist doch logisch, weil ich das so empfindet, tut es die übrige Welt auch" oder "So macht man das halt" oder "so ist das normal"
b) jeder muß lernen, für sich tatsächlich mal zu reflektieren, was für Bedürfnisse und Wünsche an eine Beziehung er/sie TATSÄCHLICH hat und das auch kommunizieren können.
In der Dynamik einer Liebesbeziehung gibt es ja genau aus dem Grund die "Enttäuschungsphase" nach der ersten Verliebtheit nach ein paar Monaten, Paartherapeut Willi hat das schön beschrieben in seinem letzten Buch. In dieser ist die rosarote Brille allmählich nicht mehr ausreichend, zu überdecken, daß wir (auch) verschieden sind. Und wir uns mit der Realität der Gegenübers, die nicht unsere sein muß, auseinander setzen müssen.
Viele Menschen neigen dazu, dem anderen dann Vorwürfe zu machen, tiefe Traurigkeit, sie sind eben vom Gegenüber ... enttäuscht. Unter Polys gilt seit einer ganzen Weile die "Lehre": Du ent-täuschst Dich ENDLICH selber, hörst also auf, Dir etwas vorzumachen. Und kannst jetzt anfangen, den anderen anzunehmen, wie er ist. Ihm Raum zu geben, Dir wirklich zu zeigen, wer er ist, als Voraussetzung für Liebe (oder eben auch nicht). Insofern ist diese Phase für mich wichtig und gut, ja dringenst willkommen. Auch wenn sie sich vielleicht nicht toll anfühlt.
Wenn aber die Beziehungsdynamik nicht zugelassen wird, oder ich vom Gegenüber Eigenschaften oder Bedürfnisse nicht akzeptieren kann, trotzdem aufgrund der bestehenden Gefühle die Beziehung aber weitergetrieben wird oder aufrecht erhalten, dann habe ich den Eindruck, führt das dazu, die vorhandene Substanz schlichtweg ... aufzubrauchen.
Bis nichts mehr da ist, weil man sich nicht umeinander gekümmert hat als der Mensch, der das da ist, sondern als der Mensch, den man haben wollte, der Rest wird ausgeblendet. Den anderen so anzunehmen, wie er IST - und sei es ihn zu nerven, nachzubohren, bis er selbst ernsthaft drüber nachdenkt, die Hosen runterläßt, sehe ich deswegen als Grundlage einer dauerhaft vitalen (!) Beziehung. Man kann auch 4 Jahre und länger von einer Sache zehren, ohne daß sie nachhaltig gepflegt wird und so bestehen kann.
Und es muß meines Erachtens auch nicht sein, daß beide gleiche Bedürfnisse oder Wünsche an die Beziehung haben - solange jeder dem anderen trotzdem geben kann, was er möchte. Willi spricht in dem Fall von "Ansprache", ein potentieller Partner sprich bestimmte unerfüllte Dinge in mir an, zu denen ich Ergänzung suche. Ob ICH diese Ding in ihm auch anspreche oder völlig andere Dinge, weil er da eben Ergänzung sucht und ihm geben kann, was er vermissen mag für Wachstum, Erfüllung, ist dann wieder eine ganz andere Fragestellung.