Das große Finale...
Sein vertrauter Geruch, das erregende Gefühl seiner Lippen auf ihren durchdrang den Nebel in Annas Kopf. Was um alles in der Welt tat sie hier? Ein Kuss, der sie noch vor wenigen Stunden in regelrechte Ekstase gestürzt hatte, widerte sie nun auf schier unerträgliche Weise an. Ihr wurde übel. Wie eine Sturzflut brachen plötzlich die Bilder und Gedanken über Anna herein. Hatte sie wirklich all diese Dinge mit sich machen lassen? Wie viel sollte sie denn noch ertragen? Einen Würgreiz unterdrückend, machte Anna sich von Michael los und stand, von Entsetzen erfüllt, auf.
„Was ist denn los?“ fragte Michael verwundert. „Ich gehe!“ erklärte Anna bestimmt und streifte sich rasch ihr Oberteil über. „Wie, du gehst?“ fragte Michael ungehalten. „Ich verschwinde! Eure Gegenwart ertrage ich keine Sekunde länger! Ihr widert mich an!“ schleuderte Anna ihm nun kalt entgegen. Michaels Blick wurde hart. Arrogant sah er sie an.
„Ach, das kleine, fette Frauchen ist ja nur neidisch, nicht so hübsch und beliebt zu sein, wie andere Anwesende. Und jetzt macht sie einen auf Spielverderberin.“ stichelte Mandy bissig. „Ja, vielleicht bin ich eine Spielverderberin, aber wenigstens hole ich mir jetzt endlich meine Würde zurück. Sucht euch eine andere Dumme, mit der ihr ‚spielen’ könnt.“ Mit diesen Worten drehte Anna sich um, und verließ aufrechten Ganges den Raum.
Sie hörte Mandy noch sagen: „Ach, lass sie, wir werden uns schon ohne sie amüsieren.“ Eine kurze Stille. Dann kam ein verspieltes Brummen von Michael, und ein lautes, fröhliches Quietschen Mandys zeigte, dass sie diesen Vorsatz offenbar sogleich in die Tat umsetzen wollten. Jedes weitere Wort wäre an diese beiden verschwendet gewesen. Die würden nie erfahren, was es bedeutete zu lieben, zu vertrauen und tiefe Gefühle zu entwickeln. Aber, oh Gott, was hatte sie nur getan?
Anna war speiübel. Sie schaffte es gerade noch zur Toilette, wo sie sich heftig erbrach. Danach ließ sie sich erschöpft neben die Toilette sinken. Das konnte alles nicht wahr sein! Das durfte nicht wahr sein! Alles Lüge! Das, was Michael ihr erzählt hatte, das, was sie geglaubt hatte, aus seinem Verhalten zu deuten. Alles Lüge! Anna durchlief ein heftiges Zittern. Und sie hatte es mitgemacht, es geradezu darauf angelegt! Tränen liefen ihr still die Wangen hinunter. Sie hatte sich ja selbst belogen. Sie hatte gewusst, dass Michael nichts für sie war, hatte gespürt, dass er sie nur benutzte. Aber sie hatte sich so in seiner Aufmerksamkeit, seiner Lust auf sie gesonnt, war geradezu erblüht unter seinen erregten Blicken. Dabei war das alles nur ein Spiel für ihn gewesen. Sie war so austauschbar wie ein Paar alter Socken.
Typen wie Michael waren doch alle gleich. Und sie hatte es immer gewusst. Und doch hatte sie sich zu diesen Männern von je her hingezogengefühlt, obwohl sie genau wusste, dass sie viel zu oberflächlich waren, um sie, Anna, in ihrer Ganzheit, ihrer Sensibilität und Verletzlichkeit zu begreifen, um das Geschenk zu würdigen, das sie ihnen mit ihrer Bewunderung und Verliebtheit machte.
Wie hatte sie ihre Würde nur so mit Füßen treten können? Wie hatte sie ihren Körper an einen Mann verschwenden können, der sie und ihre Gefühle überhaupt nicht zu würdigen wusste, der sie nur als Experiment betrachtete? Wieder stieg ein Würgen in Annas Kehle auf, als sie an die hämischen Bemerkungen von Michael und Mandy dachte. Doch diesmal unterdrückte sie es. Ja, sie war dick. Aber menschlich war sie solchen oberflächlichen Idioten doch wohl um Meilen überlegen. Sie würde nie so mit den Gefühlen anderer spielen.
Plötzlich stürmte ein Gedanke auf sie ein. Michael hatte mit ihr geschlafen, ohne Kondome zu benutzen! Der HIV-Test, den er ihr gezeigt hatte, war echt und auch aktuell gewesen. Aber dennoch blieb eine gewisse Spanne, in der etwas hätte passiert sein können. Bei dem Verschleiß an Frauen, den Michael ganz offensichtlich hatte, war das ja nicht ausgeschlossen. Panik erfasste Anna. Sie begann nun heftig zu zittern. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn und ihr Magen zog sich vor Angst zusammen. Wie hatte sie nur so vertrauensselig sein können? Nie wieder würde sie sich in eine solche Lage bringen! Nie wieder würde sie einem Mann, den sie kaum kannte, noch einmal so vertrauen! „Oh bitte, lass nichts passiert sein! Bitte, mach, dass ich gesund bin!“ murmelte sie verzweifelt. Sie musste sich so schnell wie möglich absichern. Gleich wenn sie zu Hause war, wollte sie ihre Frauenärztin aufsuchen und sich mit ihr beraten. Tief atmete sie durch. Es wird alles gut! versuchte sie sich innerlich zu beruhigen. Zum Glück war die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert war, ja nicht übermäßig groß. Aber es machte ihr dennoch wahnsinnige Angst, dass nur wegen so eines einzigen und zudem katastrophal gelaufenen Sexwochenendes ihr ganzes restliches Leben ruiniert sein könnte.
Wie hatte sie ihren eigenen Wert nur so unterschätzen können? Wieso war es ihr nur so wichtig gewesen, von einem Mann bewundert zu werden, der es im Grunde nicht mal wert war, auch nur eine Sekunde lang beachtet zu werden? Ekel und Abscheu über sich selbst stiegen in Anna auf. Sie hatte sich Michael hingegeben, sich ihm mit Körper und Seele ausgeliefert. Ja, es war auch schön gewesen. Sicher hatte sie mit Michael eine Leidenschaft kennen gelernt, die sie kaum in sich vermutet hatte. Aber zu welchem Preis? Wenn das die Bedingung war, Leidenschaft zu erleben, dann konnte sie gut und gerne den Rest ihres Lebens darauf verzichten. Die Angst, der Schmerz, die Entwürdigung, die sie jetzt fühlte, waren es niemals wert.
Anna holte tief Luft und richtete sich auf. Nun, sie hatte einen Fehler gemacht. Einen riesengroßen Fehler. Aber daran war nun nichts mehr zu ändern. Wenn alles gut ging, würde sie außer einem wehen Herzen nichts davon zurückbehalten. Und damit konnte sie leben.
Aber sie musste hier endlich weg! So schnell wie möglich! Zwar galt ihr Bahnticket erst für Sonntag, doch wollte sie hier keine Stunde länger bleiben. Selbst wenn es jetzt schon kurz vor Mitternacht war, lieber würde sie bis zum Morgengrauen in der Bahnhofshalle sitzen und warten, dass der erste Zug nach Hause fuhr, anstatt sich noch länger in einer Wohnung aufzuhalten, mit der sie nur noch Panik, Trauer und Erniedrigung verband.
Anna stand auf, wusch sich das Gesicht und machte sich präsentabel. Eilig suchte sie daraufhin ihre Sachen zusammen. Aus dem Wohnzimmer drangen eindeutige Laute von wildem Sex. Sollten die zwei ihren Spaß haben. Sie verdienten einander.
Entschlossen nahm Anna ihre Sachen und verließ das Haus endgültig.
Auf der Straße blieb sie stehen und überlegte. Wie kam sie jetzt nur zum Bahnhof? Bei der Anreise hatte Michael sie schließlich gefahren. Und zu Fuß war das so allein bei Nacht doch sicher nicht so angenehm, sich zum Bahnhof aufzumachen, zumal sie ja auch gar nicht genau wusste, wo dieser war. Vielleicht war es sinnvoll, sich ein Taxi zu besorgen? Nur kannte sie keine Telefonnummer, unter der sie eins hätte bestellen können.
Ihr Blick fiel auf eine Kneipe. Na ja, eigentlich müssten die dort doch wissen, wie sie an ein Taxi kommen konnte. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie mochte solche Etablissements nicht sonderlich. Die Menschen, die hierzulande dort einkehrten, hatten meist reichlich über den Durst getrunken und pöbelten dann gern herum oder belästigten Frauen. Zumindest sah das von außen immer ganz danach aus, weshalb sich Anna nie in so eine Kneipe bei Nacht getraut hatte. Sie hasste Michael nur noch mehr dafür, dass er sie in eine solche Lage gebracht hatte, doch nun blieb ihr keine andere Wahl mehr. Sie brauchte dringend eine zuverlässige Fahrgelegenheit.
Anna straffte die Schultern, nahm ihre Tasche fest in die Hand und schritt zielsicher auf die Kneipe zu. Drinnen war zum Glück nicht mehr ganz so viel los. Die neugierigen und zuweilen lüsternen Blicke der Gäste ignorierend, ging sie auf die Bartheke zu. Glücklichweise bediente da eine Frau und Anna sprach sie mutig an und schilderte ihr Problem. Die junge Frau nickte und war sogar bereit, das Taxi selbst zur Kneipe zu bestellen. Erleichtert setzte Anna sich an die Bar und bestellte sich ein Wasser. Während sie auf das Taxi wartete, versuchte sie krampfhaft, nicht auf die anderen Gäste zu achten. Deren Blicke in ihrem Rücken zu spüren, verursachte in ihr ein außerordentlich unbehagliches Gefühl. Hatte es wirklich mal eine Zeit gegeben, in der sie wahllos jede Bewunderung genossen hatte, egal von welchem Mann sie nun kam? Jetzt jedenfalls war es ihr beinahe unerträglich. Zum Glück belästigte sie aber wenigstens keiner.
Das Taxi kam und erleichtert nahm Anna ihre Sachen, bedankte sich noch einmal bei der netten Bardame und verließ die Kneipe. Das Taxi brachte sie sicher zum Bahnhof.
Dort suchte sie sich den nächsten Zug heraus, der sie endlich wieder in Richtung Heimat bringen würde. Anschließend ging sie zu dem entsprechenden Gleis, setzte sich in eines der Wartehäuschen, das glücklicherweise leer war, und wartete geduldig.
Zunächst versuchte sie zu lesen, doch war sie noch viel zu aufgeregt, um sich darauf konzentrieren zu können. Stattdessen ließ sie erneut all die Gedanken und Gefühle auf sich einströmen. Die Wut und Enttäuschung über Michael. Die Schuldgefühle, sich selbst so betrogen zu haben. Die Angst vor all den emotionalen und körperlichen Folgen. Und doch, als der Morgen endlich graute, war sie innerlich zur Ruhe gekommen. Sie konnte ihr Verhalten und das Erlebte nicht mehr rückgängig machen. Sie musste eben einen Weg finden, mit all dem zu leben. Ihre Familie und Freunde würden sie dabei ohne Frage unterstützen.
Eines war jedoch sicher, ihr Leben würde nie mehr so sein, wie vor diesem Wochenende. Aber war es nicht auch gut, dass sie endlich begriffen hatte, dass sie es endlich auch fühlte und nicht nur theoretisch wusste, was wirklich wichtig im Leben war, was sie tatsächlich wollte, was sie brauchte, um dauerhaft glücklich zu werden? Nun, es war zumindest ein Anfang.
Als der Zug endlich in den Bahnhof einfuhr, stand Anna auf und nahm ihre Sachen. Erleichtert stieg sie in den Zug.
Neuer Mut erfasste sie, während sie sich einen Sitzplatz suchte. Sie würde sich von so einem Erlebnis nicht unterkriegen lassen! Das versprach sie sich selbst. Erschöpft und froh, endlich nach Hause zu fahren, schloss sie schließlich die Augen, während die Landschaft begann, immer schneller an ihr vorbeizuziehen.
© Mary 2006