Ich finde, das ist eine schöne und wichtige Frage...
Ich habe mich vor einigen Jahren sehr intensiv damit auseinandergesetzt.
Das Zwischenergebnis, das ich daraus mitgenommen habe, lautet grob so:
Im Grunde sind Erwartungen (oder auch Ansprüche) nichts anderes als
degenerierte Wünsche. Man könnte auch sagen: "Wünsche in hässlicher Kleidung"...
Ich glaube ebenso wenig, dass es möglich ist, ohne Erwartungen/Ansprüche
miteinander in die Liebe und/oder Lust zu gehen wie ohne Wünsche.
Schließlich entsteht jede Erwartung oder jeder Anspruch aus einem Wunsch heraus.
Und jeder Wunsch ist im Grunde eine Motivationsstrategie unseres Unterbewussten
mit dem Ziel, uns Erfahrungen machen zu lassen, in denen unsere Bedürfnisse erfüllt
oder genährt werden.
Die Wünsche, die wir an das Leben, eine Partnerschaft oder eine Begegnung haben,
sind meiner Erfahrung nach selten ein Problem. Zu einem Problem werden sie aber, wenn
wir sie behandeln wie einen Reifen, durch den der oder die andere für uns zu springen hat.
Ich habe in der Begleitung unterschiedlichster Liebes-"Paare" immer wieder dieselbe
Erfahrung gemacht:
Wenn zwei Menschen einander wirklich gegenüber wirklich transparent sind und einander
sowohl ihre Wünsche, Vorstellungen oder Sehnsüchte zeigen als auch die jeweils damit
verbunden weiteren Gefühle (z.B.: Angst vor Ablehnung, Scham, Ärger, Frustration...),
dann entsteht in den allermeisten Fällen ein sehr intimer Raum des Mitgefühls und
Wohlwollens. In diesem ist oft weit mehr miteinander möglich, als es dies beiden Beteiligten
vorher bewusst war.
Ein Ergebnis so eines gegenseitigen Sichzeigens kann übrigens auch darin bestehen, dass
jemand sagt: "Ich sehe dich mit deinem Wunsch. Und dennoch möchte ich ihn dir nicht erfüllen."
Wenn das gegenseitige Mitgefühl und Wohlwollen jedoch echt ist, dann bedeutet dies nicht:
"Du musst deswegen mir zu Liebe auf deine Wünsche oder Sehnsüchte verzichten!", sondern:
"Ich möchte dich darin unterstützen, einen anderen Weg zu finden, das zu erfahren, wonach
du dich von Herzen sehnst!"
Darum ermutige ich meine Klient:innen einerseits dazu, sich ihren Liebs- oder Sexualpartner:innen
gegenüber bewusster und entschiedener zu zeigen. Zum anderen aber auch, sich bewusst und
entschieden solche Menschen als Spielgefährt:innen zu suchen, die ebenfalls einen offenen und
transparenten Umgang mit ihren Gefühlen und Gedanken, Wünschen, Sehnsüchten oder Ideen
haben...
Für diese Art des Miteinanders nämlich braucht es zwei, die ebenso gewillt wie in der Lage sind,
reflektiert und selbst-bewusst mit ihren eigenen Gefühlen und Wünschen ebenso wie mit jenen
ihres Gegenübers umzugehen.
Hieran zeigt sich übrigens in meinen Augen recht deutlich, dass Ansprüche oder Erwartungen
durchaus etwas Gesundes und Wichtiges sind. Das bedeutet nur halt nicht, dass sie für
diejenige Person, die sich mit ihnen konfrontiert fühlt, besonders hübsch oder verlockend sind.
Und da sich, Profiltext hin oder her, unsere Gefühle oder Sehnsüchte ohnehin von Tag zu Tag
immer etwas unterschiedlich zeigen - und darüber hinaus bedingt durch unsere Erfahrungen
im Laufe von Wochen, Monaten und Jahren noch einmal mehr wandeln, bleibt uns wohl oder
übel nichts anderes übrig, als immer wieder miteinander zu sprechen und uns selbst wie
einander immer wieder zu zeigen, wie es in unserem Kopf, in unserem Herzen oder in unserem
Unterleib gerade aussieht.
Wer darauf keine Lust hat, könnte es vielleicht mit Telepathie versuchen...
Ich kenne nur leider bislang noch niemanden, der die wirklich gut drauf hat...