Der Jahrmarkt
Die Lichter des Jahrmarktes zogen Linda an, seit sie denken konnte. Die ganze Geräuschkulisse war elektrisierend und der Duft nach frischen Popcorn und Zuckerwatte unwiderstehlich. In ihrer Erinnerung waren das immer magische Spätsommerabende.In diesem Jahr hatte ihre Laune einen jähen Dämpfer bekommen. Die unschöne Trennung von ihrem Freund machte ihr noch zu schaffen, wenn sie ehrlich war. Doch sie wollte ihm auch nicht die Genugtuung geben, sich den Jahrmarkt entgehen zu lassen. Im Gegenteil. Sie zog ihr hübschestes Sommerkleid an, steckte ihr rötlich-braunes Haar hoch und trug einen tiefroten Lippenstift auf, gerade weil ihr Exfreund ihn zu nuttig fand. Er kritisierte ohnehin alles an ihr und hatte Angst, was seine Familie und Freunde denken könnten. Zuhause stand sie noch ganz selbstbewusst vor dem Spiegel. Zupfte den BH zurecht, drehte sich, um sich von allen Seiten betrachten zu können und war zufrieden. Und jetzt stand sie auf dem breiten Feldweg und musste tief durchatmen. War es mutig allein auf den Jahrmarkt gehen zu wollen oder einfach nur traurig, so aufgetakelt, wie er es nennen würde, unter die Leute zu gehen? Doch während sie dies dachte, trugen ihre Füße sie weiter fort, mitten in das Geschehen.
Ohne bestimmtes Ziel lief sie in der Gegend herum und bildete sich ein Blicke auf ihren Körper zu spüren. Nein. Sie bildete sich das nicht ein. Zwischen zwei Buden stand ein Mann, vielleicht Ende Zwanzig, rauchte eine Zigarette und starrte sie unverholen an. Ohne Zweifel, galten seine Blicke ihr. Ein Schatten lag über seinem Gesicht. Aus dieser Entfernung wirkten seine Augen fast schwarz und hatten etwas Bedrohliches. Sie bemerkte, dass sie sein Starren erwiderte und sich seines Blickes kaum entziehen konnte. Sie fühlte sich fiebrig und ein kalter Schauer durchfuhr sie. Mit Mühe wandte sie sich ab. Wie lange hatte sie ihn angestarrt? Sicher nur für Sekunden, doch es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Scham überkam sie, gefolgt von einem Gefühl der Schutzlosigkeit. Schnellstmöglich setzte sie ihren Weg fort und stahl sich aus seiner Sichtweite. Es war dumm ohne Begleitung hier rumzulaufen, schoss es ihr in den Sinn.
Gedankenversunken bummelte sie an den bunten Buden vorbei, doch hatte sie nun weder Appetit auf Popcorn, noch auf die wunderschönen kandierten Äpfeln, die so verführerisch glänzten. Es gab so viele Attraktionen und sie wusste nicht, wo sie beginnen sollte. Da entdeckte sie in der Ferne einen nostalgischen und recht runtergekommenen Schaustellerwagen, der ein Stück abseits stand. Fast hätte man ihn übersehen können. Auf einem rotem Schild stand mit goldeneren Buchstaben: Madame Corbeau. Wahrsagen, Kartenlegen, Handlesen.
Amüsiert dachte sie daran, wie ihr Exfreund sich darüber lustig machen würde. Er hätte sie am Arm gepackt und weiter gezogen. Vermutlich zu einer der Schießbuden, wo er zeigen konnte, was für ein toller Hecht er war. Doch heute nicht. Entschlossen trat sie näher und vernahm den Duft von Sandelholz und einen blumigen Duft, den sie erst nicht einordnen konnte. Lilien womöglich. Sie blickte noch einmal zurück und der Lärm des Marktes schien gedämpfter zu sein. Die Tür stand offen, auch wenn ein Vorhang nur einen Spalt breit erkennen ließ, dass innen Licht brannte. Auf einmal war sie sich nicht mehr sicher, was sie hier sollte. Welche Fragen wollte sie der Dame stellen?
wird fortgesetzt...