Das Los
Sidonin war seit Jahren die Vorleserin und Poetin Ihrer Majestät von Pomellunder di Cordi und würde es nie wagen, Ihrer Majestät etwas vorzumachen, um sich selbst in ihrer Nacktheit vor ihr zu läutern. Bei Hofe hielt sich mittlerweile sogar nächtens hartnäckig das Gerücht, dass die aufgebrachten Heerscharen des Volkes die Köpfe der Gnädigkeiten und ihrer Gefolgschaft einforderten und nach der ihnen nicht angeborenen Macht strebten, um eine bessere Welt einzuläuten, in der keine toten Ratten durch die (Ab)Wasserkanäle von Pomellunder und Cordi und wie die Ländereien alle hießen schwammen, um in den hungrigen Mäulern der einfachen Leute zu landen und die alten Geister eben nicht in neue zu läutern.
Der Hofstaat irrte mit Nachttöpfen und Kerzenleuchtern in der Hand und Nachthauben sowie Zipfelmützen auf dem Kopf und Nachtkleider am Leib durch die schummrigen Gänge des Palastes von Pomellunder di Cordi, tratschte sich durch die Listen der anstehenden Todesopfer und wetteten darum, wer als nächstes die kopflose Flucht ins neutrale Schlummawonder antreten würde, um den wütenden Heerscharen des Volkes zu entkommen.
Die schlaflose Sidonin beobachte jede Nacht, wie sich Kutsche um Kutsche und Reiterschar um Reiterschar in alle Winde auf und davon machten, um Ihre Majestät von Pomellunder die Cordi mit ihrer Nichtmehranwesenheit zu beglücken oder vielmehr zu verfluchen.
Doch Sidonin blieb Ihrer Majestät treu und küsste ihr die Perlen von den Wangen und weinte ihre Tränen, als man sie des Kopfes beraubte, um die Muttererde mit ihrem Blut zu tränken und ihr Fleisch an die Schweine des Landes zu verfüttern.
Sie fädelte die Perlentränen ihrer vergangenen Herrschaft auf einen Zwirn und stickte sich damit lauter Büßerkreuze auf Bauch, Brust und Arme, um dann während des Canossagangs auf Kunhold den Groben zu stoßen, der sie seinen Willen lehrte, bis ihr Sehen und Hören verging, damit sie ihm von nun an mit ihrem Körper diente …
Das war das Los von Sidonin, und als sich eine neue Königin über das Volk erhob, wurde sie nicht wieder an den Hof dieser frisch gekrönten Blaublüterin gerufen. Denn sie war verbraucht wie eine ausgedörrte Pflaume und folgte sobald ihrer alten Majestät als Futter für die Würmer ins Gras beziehungsweise in den Schlamm dieser Welt.
© CRK, LE, 01/2020