Erwachsen
Es war noch dunkel draußen, doch der Tschilperich tschilpte schon nach der Welt, nach seinen Artverwandten und auch nach denen, die ihm nicht so nahestanden. Gotterbärmlich tat er das nicht, aber es hörte sich erbarmungswürdig an, wie seine Vogelstimme die Herzwurzel der Bulmenesche gefrieren ließ, um das Erdreich zum Steinerweichen mit Laubgespenstern zu bedecken.
Sie alle waren ausgeflogen, die Welt auch und hatten ihn im Schlaf verlassen, alleingelassen mit seinem Ich und seinen Träumen und zurückgelassen im Herbst dieser Zeit.
Der Tschilperich folgte ihnen nicht, denn er fragte sich, was ihm wohl lieber gewesen wäre, der Spatz in der Hand, der den gebrochen Flügel von sich spreizte und nach den Fingern seines Retters pickte oder die Taube auf dem Dach, welche die Schindeln vollschiss, um dann gurrend das Weite zu suchen.
Der Tschilperich wusste es nicht, und so betrachtete er in der frühen Morgenstunde die Gedanken der Menschenkinder, wie sie sich selbst mindestens drei bis fünf Schritte voraus gewesen sind, um ihn in seiner Bulmenesche nicht zu sehen und dennoch zu erahnen …
Doch eins der großen Menschenkinder konnte den Tschilperich nicht nur hören, sondern auch sein Antlitz wahrnehmen und in sein Herzelein blicken. Es erinnerte sich an junge Tage, dennoch ging es nicht hin, um den Vogel an sich zu nehmen, in seinen eigenen Vogelbauer zu setzen und lieb zu haben. Denn das war nicht sein Problem, sondern das des Tschilperichs. Außerdem sollte es keine Zähmung zurück zu Vogelkindertagen werden, denn schließlich war der Zschilperich schon erwachsen.
So hörte der Tschilperich irgendwann damit auf, erbarmungswürdig zu tschilpen und begann - wie eine Amsel am nächtlichen Morgen - sein wunderschönes Lied zu trällern und, wenn es an der Zeit gewesen ist, fortzufliegen, um vielleicht auch wiederzukehren.
© CRK, LE, 10/2019