Teil 2
Wochen vergingen, ohne dass ich die Frau wiedersah. Die Tage wurden wieder trüber, meine Gedanken dunkler und mein Leben wieder bedeutungsloser.
Ich erwischte mich dabei, wie die Selbstzweifel meine Erinnerungen aushöhlten. Hatte ich die Frau überhaupt getroffen? Hatte sie mich überhaupt angesehen? War dies alles nur ein Auswuchs meiner Wünsche?
Ich wusste, dass ich ein Tagträumer war. Schon immer sah ich die Welt anders. Nicht, weil ich irgendwie verrückt war, sondern einfach, weil ich sie so wie sie war, einfach für zu trist empfand. Und für ungerecht. Ich sah Frauen, die sich an Männer klammerten, die sie wie Dreck behandelten. Ich sah Typen, die mit Oberflächlichkeiten gefühlt jede Frau bezirzen konnten, während ich daneben stand und mich entscheiden musste, ob ein Augen verdrehen reichen würde oder ob ich mich doch lieber übergeben sollte.
Ein Teil von mir wollte einfach nicht akzeptieren, dass die Welt so funktionierte, während ein anderer Teil in Neid zerging. Neid auf Männer, die nur mit dem Finger schnipsen mussten.
Eines Abends musste ich lange arbeiten. Wirklich lange. So lange, dass ich irgendwann das Gefühl für Zeit verloren hatte. Ich ging im Dunkeln zum Bahnsteig, während das feierhungrige Volk an mir vorbei in die Innenstadt strömte. Mir selbst war nicht zu feiern zu mute. Es würde eher einer der Abende werden, den man allein auf der Couch mit Chips und Whisky Cola zu Ende bringen wollte.
Der Wagon war weitestgehend leer und so ließ ich mich auf den nächstbesten Sitz fallen und drehte die Musik auf meinen Kopfhörern so laut, dass die Außenwelt im Hintergrund verschwand. Den Kopf legte ich an der Scheibe ab und schloss die Augen. Ich wusste nicht, wieso ich aus dem Fenster sehen sollte, denn außer Dunkelheit würde es nichts geben.
Ich bemerkte, wie sich jemand mir gegenüber hinsetzte. Ich runzelte leicht verärgert die Stirn, denn immerhin war die Bahn doch leer und es wollte mir nicht in den Kopf, wieso mir jemand so nah rücken musste. Ich überlegte, ob ich irgendeinen sarkastischen Spruch fallen lassen sollte und öffnete die Augen, um den Störenfried zu mustern.
Und dort saß sie.
Mein Herz setzte zwei bis drei Schläge aus, während ich versuchte zu schlucken.
Sie trug einen braunen Rock, der knapp unter ihren Knien endete, hohe Stiefel und eine weiße Jacke. Ihre Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden und ihre Lippen waren sinnlich dunkelrot geschminkt.
Ich holte tief Luft, denn offensichtlich hatte ich völlig das Atmen vergessen. Und da war es wieder … ihr bezauberndes Lächeln, als sie sah, wie ich reagierte.
Am Liebsten wollte ich mir sofort meine Kopfhörer aus den Ohren reißen, mich vorn über beugen und meine Lippen auf ihren Mund pressen, nur um zu fühlen, wie ihr Atem sich mit meinem vermischte.
Doch ich tat … nichts. Wie ein Kaninchen vor der Schlange saß ich da, atmete betont flach und betrachtete sie mit geweiteten Augen.
Sie schien meinen Blick nicht nur zu bemerken, sondern zu genießen, denn sie begann verträumt mit niedergeschlagenen Augen an einer Haarsträhne zu spielen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte.
Ich spürte, dass ich heute definitiv eine zu enge Hose angezogen hatte und vor allem bemerkte ich, dass auch sie dies festgestellt hatte. Ein Blitzen trat in ihre Augen und sie begann zu grinsen.
Dann fuhr die Bahn in den nächsten Bahnhof ein und sie erhob sich, nur um im Moment des Stillstandes einen Ausfallschritt zu machen und vornüber auf mich zu kippen. Ihre Hand stützte sich kurz auf meinem Oberschenkel ab und ich spürte ihren Atem auf meinem Gesicht wie eine leichte Frühlingsbrise mitten in einem Feld voller Blumen. Unsere Blicke trafen uns und ich begann wieder zu zittern. Ich verlor mich in ihren Augen, die nur wenige Zentimeter von meinen entfernt waren, blau, tief, wunderschön.
Sie drückte sich ab und ging zum Ausgang. Ich blickte ihr nach mit einer Mischung aus Erregung und Enttäuschung.
Ich musste sie wiedersehen …