*******ust:
Wieso war eure Libido früher so wenig ausgeprägt?
Ganz sicher bin ich bis heute nicht. Meine Libido war bis vor etwa einem Jahr praktisch tot. Ich hatte nie eine. Aber ich habe natürlich Vermutungen. Zum Beispiel, dass ich Sex während meiner Kindheit und Jugend nie positiv verknüpfen konnte. Sex war etwas, das in meinem Umfeld von Männern genutzt wurde, um Frauen zu konsumieren, und von Frauen genutzt wurde, um Männer zu erpressen.
Ich hatte mit 12 einen sehr unangenehm sexuellen Übergriff durch meinen älteren Pflegebruder zu erleiden und obwohl ich es seiner Mutter erzählte, hat sie mir nicht geholfen. Auch mit 14 war ich noch einige Male sexuellen Übergriffen durch etwas ältere Jungs ausgesetzt und habe gelernt, dass kein Junge mich wollte, wenn ich nicht mit ihm schlief. Auch habe ich unangenehme Erfahrungen mit älteren Männern gemacht, die mich besonders im Alter zwischen 13 und 15 angebaggert haben und im späteren Teenageralter bekam ich Vergewaltigungen angedroht, weil ich "anständigen Männern" Sex vorenthielt.
Bis heute ist die Angst, ausgenutzt und benutzt zu werden, sehr tief in mir verankert und ich denke, sie war maßgeblich daran beteiligt, dass ich kein sexuelles Verlangen gespürt habe und Sex mich sogar lange Zeit angeekelt hat. Auch in meiner Beziehung habe ich Sex und sogar zärtliche Berührungen bis vor Kurzem nicht genießen können, konnte es kaum ertragen und hatte mit meinem Freund fünf Jahre am Stück keinen Sex und in dieser Zeit auch keinen Austausch von anderen Zärtlichkeiten.
*******ust:
Und wieso konntet ihr das ändern?
Ich habe es nicht aktiv geändert. Ich bin im März 2017 an einer bipolaren Störung erkrankt (bp1, also manisch geprägt) und in der zweiten Manie wurde meine Libido wachgebrüllt. Die kam nicht langsam und niedlich und erblühte wie ein schüchternes, kleines Röschen, sondern ich habe seitdem mit hypersexuellen Phasen zu kämpfen, die ich auch gar nicht lustig finde. Dazwischen aber habe ich eine, würde ich behaupten, ziemlich hohe, aber nicht krankhafte Libido und habe sehr viel und sehr gerne Sex.
Die emotionalen Probleme, die ich vorher hatte, habe ich mittels einer Paartherapie ein wenig lösen können und tue mich seitdem auch leichter damit, Nähe zuzulassen und Vertrauen aufzubauen.
Mein Sexleben bereichert mich mittlerweile enorm, obwohl es nicht immer leicht zu händeln ist. Ich bin medikamentös eingestellt und daher auch nicht "verrückt" oder so, lebe ein ganz normales Leben, aber ja: Ich bin sehr sexhungrig geworden. Nicht nur im Vergleich zu früher (was ja eine Veränderung um 180 Grad war), sondern auch im Vergleich mit meinem direkten Umfeld. Hätte ich nur meinen Freund als Sexpartner, würde mir das tatsächlich nicht reichen. Er will nämlich nicht so oft wie ich.
*******ust:
Hat euch jemand dazu inspiriert
oder seid ihr selbst drauf gekommen?
Zum "sexuellen Hunger" hat mich jetzt niemand inspiriert, aber ich habe mich relativ früh nach dem Wachwerden meiner Libido hier im Joy angemeldet, weil ich starken Redebedarf hatte und auch ein wenig überfordert war. Mir hat zumindest der Austausch hier extrem geholfen und mich auch dazu inspiriert, nicht so sehr mit mir zu hadern, sondern zu versuchen, meine Sexualität selbstbestimmt und in für mich persönlich gutem Maße zu leben.