Wir Singularitäten
Wir sind nach neuerer soziologischer Erkenntnis „Singularitäten“*. Auch bei der Suche nach Sex, auch beim Sex. Jeder und jede ist das Besondere, das umworben, erobert, gewürdigt werden will. Kunden mit goldener Kreditkarte des Lebens, auch wenn er oder sie nicht mit dem goldenen Löffelin der Wiege geboren wurde und voraussichtlich auch nicht first class in die ewigen Jagdgründe eingehen wird. Dazwischen machen wir es uns gemütlich, richten uns als Singularitäten möglichst geschmackvoll ein.
Das gilt auch für das Liebesleben und das Beziehungsspiel, real ohnehin und in Joy sowieso. Singular ist der Lover, den nicht Jede bekommt, als sei der beseelte Schwanz bei Amazon oder Zalando zu ordern. Auch nicht die Gespielin für eine Nacht oder länger, die nicht mit jedem ihre Schweißperlen teilt, der an ihrer Haustür zweimal klingt und dessen Blick sie entnimmt, dass er jetzt ein Caffee to Go und mehr vertragen könnte.
Der Preis ist zu hoch und zu heiß. Singularitäten, die verkörperte Besonderheit, müssen sich gut verkaufen, um eventuelle Verlustgeschäfte der Biographie auszugleichen. Sie müssen sich inszenieren. „Mach was aus Dir!“, laute das Dogma, das Gesetz der Singularität. „Sei etwas Besonderes! Sie außergewöhnlich!“ Das Gewöhnliche stirbt schnell, weil es übersehen wird und unbeachtet bleibt. Das ist der kategorische Imperativ der Spätmoderne, dessen Arbeiter nicht mehr in lauten Maschinenhallen schuften müssen, sondern in klimatisierten Büros an getakteten Schreibtischen und bunten Bildschirmen. Wenn es denn gut gelaufen ist mit der Karriere.
Je interessanter die Singularität, die mehr ist als Individualität, um so besser die Aufmerksamkeit und um so größer die wirtschaftliche und soziale Rendite. Das Allgemeine, das Langweilige, das Banale und Gewöhnliche muss dazu „upgradet“ werden, aufgepeppt wie kostengünstige TV-Formate bei den Privaten. Der FKK-Urlaub also nicht an der Ostsee, sondern auf einer karibischen Trauminsel, wo sich schöne Menschen als Adam und Eva am paradiesischen Strand begegnen. Und alle gucken, ob es zum finalen Showdown kommt, natürlich noch jugendfrei. Nackt im Büro dagegen wäre zwar auch ein Tabubruch, aber auch irgendwie sehr übergriffig, aber auch langweilig, ein Fall für die Pornoindustrie, die alles inszeniert, nur nicht das Außergewöhnliche.
Das eigene Profil schärfen, das gehört zur egalitären Verkaufsfläche, die heute jedem im sozialen Netzwerk zusteht. Das Smartphone wird zum Körperteil kommunikativer Welteroberung, in der es sich zu behaupten gilt. Schneller sein als die Konkurrenz, das gilt nicht nur für Konzern, sondern auch für die persönliche Singularität: „Bin ich zu stark, bist Du zu schwach!“.
Neulich bat mich ein junger Mann, ihm ein Profil zu erstellen. Der junge Mann war kein schwieriger Fall. Ein ansehnlicher, durchtrainierter Körper, nur eine eben zurückhaltende, aber nicht aggressive und damit etwas langweilige Profilsprache, dem Textgenerator nicht unähnlich. Das Problem? Er hatte das durchaus zutreffende Gefühl, die „richtigen Frauen“ damit nicht ansprechen zu können, wusste aber nicht, wie man das anstellen könne. Also bat er mich um einen Text.
Ich verstand ihn nur zu gut, kam mir aber vor, wie der Dekorateur eines Kaufhauses, der das Schaufenster für die Weihnachtszeit herzurichten hatte. Das machte trotzdem Spaß, einen Profilstyl zu entwerfen, zumindest die werbetextliche Vorlage zu erstellen. Ich konnte mich in ihn hineinprojizieren, wie man das bei einem Marketingprodukt und dem Marketingkunden macht. Ich, der Ältere, der für eine Stunde in seinen Körper, seine Wünsche, Sehnsucht, Neigungen hineinschlüpfte wie in den Anzug eines Fremden, der sich für den guten Zweck verkleiden dürfte, um ihn neu zu erfinden für genau dieses abgezirkelte Schaufenster auf JOY. Das ist auch eine Lust. Frauen zu interessieren durch die Augen eines Fremden; das Cuckold des Marketings. Wäre er eine Frau gewesen mit ihrem Anliegen, ich wäre imaginativ-vaginal feucht geworden beim Schreiben. Manche Autoren bevorzugen weibliche Hauptrollen in ihren Romanen.
Manchmal müssen wir uns also die Singularität, das Besondere, ausleihen, um wieder unser ICH zu fühlen. Nicht nur rein äußerlich, sondern auch intersubjektiv verkleiden. Nur so entkommen wir zeitweise unserer eigenen Gewöhnlichkeit und unserer individuellen Banalität. Dafür wurden der Karneval und das Maskenspiel erfunden.
Aber wann hat das angefangen, sich selbst und dem Gewöhnlichen zu entfliehen? Wann die Scham, nichts Besonderes zu sein?
Waren es die Eltern, die uns wie gewöhnliche Kinder behandelten, weil da noch zwei oder drei Geschwister waren?
Waren es die Helden der Jugend, die über den Kanälen und den Allmachtsfantasien schwebten, die Kinder nun mal haben, um bald einzusehen, dass es nur ganz wenige schaffen, Stars zu werden?
War es eine Schönheit der Singularität in der Klasse, die uns als das Nicht-Besondere prominent ignorierte, wo wir doch so sehr wünschten, wenn nicht diese Klasse und Rasse zu haben ist, sein Freund oder ihre beste Freundin oder sein zu dürfen und unentbehrlich, also etwas Besonderes zu werden?
War es der Erwachsene, der sich mehr vom Leben erhoffte, als für gewöhnlich das Leben zu geben bereit ist? Und hat der Andere, die Singularität gegenüber, nicht immer Mehr und Besseres als wir selbst?
Das Leben ist schamlos. Aber natürlich schämen wir uns, nicht so schamlos sein zu können, aber auch nicht so sein zu wollen. Wir denken für uns und für andere mit, und wir sehen für andere, auch auf uns selbst. Banal ist es auch, dies zu leugnen.
Die einzige Gefahr, die der künstlichen Singularität droht, ist die reale Begegnung und ... die Liebe.
Die Liebe ist selbst eine Singularität, diese raffinierte, zuweilen schwachsinnige, die wir uns eigentlich nie leisten können, die gerade ungelegen kommt in unsere Selbstoptimierungsprozesse mit dem Schild an der Tür: „Bitte nicht stören!“ Sie gefährdet unsere Selbstprojekte und Selbstprojektionen, für die wir in der Regel vor unserem Lokal einen Rausschmeißer postiert haben, der alles abweist mit einem dreckigen Grinsen, dass nicht unseren Vorstellungen entspricht. Die Liebe kommt an ihn vorbei, frech, keck, fordernd, unverschämt. Sie ist das Besondere, das keine Rücksicht nimmt auf unsere Scham, nicht einmal auf unsere Tagesform. Sie ist in sich schon unanständig, wurde aber kulturell so überhöht, dass sie zur begehrtesten aller Singularitäten wurde und zur schrecklichsten. An ihr zerbrechen Wahnsinnige und Genies, hohe und hohle Geister, Verbrecher und Heilige.
Sie kostet uns nichts und dennoch alles. Und macht uns zuweilen zu Singularitäten, die wir nie sein wollten.
*Zu empfehlen: Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten, Suhrkamp-Verlag, 480 Seiten.
©Dreamy2017
Alle Rechte beim Autor.