Herr ihrer Zeit
Ich hatte E. auf dem Heimweg kennengelernt, in einem jener nur halbvollen Donnerstagsnachmittagszüge, die klappernd in die Stadt hineinfahren, um dann zwei Stunden später die Berufspendler in ihre Vorstadtwohnorte zu verteilen. Ich sah abwechselnd aus dem Fenster und in mein Buch und freute mich wie fast täglich, meinem Angestelltendasein entkommen zu sein. Seit ich mich selbstständig gemacht hatte, arbeitete ich viel mehr. Aber ich war auch immer Herr meiner Zeit.
Während der Zug klapperte und hielt, klapperte und hielt, dachte ich über die vielen Lebensstunden nach, die mir in meinem starren Alltag früher einfach zwischen den Fingern zerrieselt waren wie Sand, und freute mich über das Glück der Freiheit. Ich hatte zwar eine anstrengende Besprechung hinter mir, aber es war noch früh, etwa 15 Uhr. Ich hatte keine Pläne, aber wusste, dass der Tag noch vieles bereithalten konnte.
Das Buch, ein dunkler Thriller, war gut, und nach einer Weile nahm ich selbst die blechernen Bahnansagen nicht mehr richtig wahr. Zum Glück hatte ich noch eine kleine Strecke vor mir, so dass ich vorerst nicht auf die Haltestellen achten musste. Eine Gruppe Jugendlicher stieg ein und machte sich auf einem Vierersitz breit, die Handy gezückt und nur damit beschäftigt, sich gegenseitig zu fotografieren. Ihnen verdanke ich alles, denn ohne sie hätte E sich an diesem Nachmittag nicht zu mir gesetzt, und ich hätte nicht von meinem Buch aufgeschaut.
So hörte ich ein „Ist hier noch frei?“, das ich, ohne aufzublicken, nickend bejahte.
Erst als sie schon da saß, und ich das nächste Mal umblätterte, sah ich auf.
Sie saß einfach da, die Hände auf den Schoß gelegt, und blickte aus dem Fenster. Sie strahlte genau die selbstbewusste Ruhe aus, die mich an Frauen anzieht.
Nicht nur, dass sie so ruhig und aufrecht dasaß, auch ihre elegante, schwarze Bluse und die glatten braunen Haare gaben ihr etwas Zeitloses, Anmutiges. Aber – war es, weil sie meine Blicke bemerkte, war es, weil sie an etwas anderes dachte? – mit einem Mal huschte ein spöttisches Lächeln über ihr Gesicht und korrigierte den Eindruck, einer Statue gegenüber zu sitzen. Sie war eine zeitlose Schönheit, die ausgesprochen lebendig war. Und ich hätte in diesem Moment gerne ihre Gedanken gelesen.
Ihr Alter war schwer einzuschätzen, auch darin war sie einer Statue ähnlich. Ich tippte auf Ende 20 und korrigierte meine Schätzung erst nach oben, dann nach unten. Meine Blicke glitten an ihr entlang, ihre ausgeprägten Schlüsselbeine fielen mir auf, ihr schlanker Hals, eine dünne, goldene Kette über dem Ansatz ihres Dekolletees.
Sie atmete gleichmäßig, aber ihre Bluse war dünn und leicht, so dass ich sehen konnte, wie ihre Brust sich leicht hob und senkte. Mein Buch hatte ich längst vergessen, der wahre Thriller war nun sie.
[Fortsetzung folgt…]