Seryosha - das Ende einer Liebesgeschichte
Katya und Lesya waren Schwestern. Aber nur für 30 Jahre. 1986 waren sie bei der Tante auf dem Land im ukrainisch-weissrussichen Grenzgebiet am Rand der Pripyatsümpfe; Katya war damals vier, Lesya ihre ältere Schwester schon zehn Jahre alt. Dann kam die Strahlung und die Mädchen waren später nie mehr auf dem Land.Es kamen aber auch Seryosha und ich. Seryosha heiratete Katya, ich Lesya. Es folgte eine Zeit des Überschwangs, der Leichtigkeit, der Sorglosigkeit, der Grenzenlosigkeit - des Glücks.
Katya hat dann die Leukämie zuerst getroffen, dann Lesya der Gebärmutterhalskrebs. Beide haben es nicht geschafft. So haben Seryosha und ich unsere Frauen an Tschernobyl verloren. Es war, als würde alles Wasser der Welt zu Eis gefrieren - und seitdem ist es nicht mehr aufgetaut.
Seryosha und ich waren in Bosnien und im Kosovo, wenn auch zeitlich getrennt. Wie die Angehörigen aller Freiwilligenverbände auf der ganzen Welt wollten wir unser Leben von hinten her aufzäumen: Wenn das Leben keinen Sinn mehr macht, soll wenigstens der Tod Sinn haben ...
Im Donbass, zwischen Gorlowka und Debalzewo, haben wir uns jetzt wieder getroffen. Die Peinlichkeit voneinander die Wahrheit zu kennen, überspielen wir damit, dass wir versprechen, gegenseitig auf uns aufzupassen. Verschämtes Lächeln.
Wir sitzen in einem "Budka" und wissen nicht, wo sich vor uns im Waldsaum die 17. Panzerbrigade mit schwerem Gerät - vermutlich einem T80 - eingegraben haben. Deshalb muss einer aus unserer Gruppe von leichten BMP-1-Schützenpanzern und Budki Kaninchen spielen, um den Beschuss auf sich zu lenken.
Über Funk kommt der Befehl, wir sind dran. Seryosha gibt Gas. Maschinengewehrsalven treffen uns und hören sich an wie schwerer Regen auf Welleternit: dumpf, matt, klirrend - Verflucht! Die Salven wurden nur abgegeben, um ein Geschütz auf uns einzurichten. Dann ein furchtbarer Knall, meine Brust wird gequetscht und ich bekomme keine Luft mehr, ich bin taub geworden, das Licht geht aus, Öl spritzt in mein Gesicht, es stinkt nach verschmortem Gummi und dem Geruch von frisch geschweißtem Stahl ... die Luke hinten wird aufgerissen, frische Luft, was für ein Glück nicht ersticken zu müssen, Seryoshas Kopf liegt auf der Munition, er selbst schaltet vorne noch, obwohl der unterhalb des Turms aufgerissene Panzer längst steht ... Dima packt mich an der Feldbluse, dass Knöpfe abspringen und zerrt mich nach draußen, "bistro!" ... wir müssen geduckt so schnell wie möglich zur rechten Flanke, wo ein BMP auf uns wartet ...
Es ist so still, wie es noch nie still war. Trotzdem ist es unmöglich, alles noch einmal zu überdenken. Ob Seryoscha beim Sterben das Schöne noch einmal erlebt hat, denn nur das Schöne bleibt angeblich am Schluss übrig, wenn der Lebensfilm noch einmal abläuft? Hatte er noch einmal die Zeit, durch seine Erinnerungen spazieren zu gehen, noch einmal mit Katya spazieren zu gehen ... ?
Leider nicht, fürchte ich.