Talsohle oder Gipfel der Midlife-Crisis?
Fabrizio ist ein Freund aus Studententagen. Er ist niedergeschlagen; seine Mutter ist gestorben; seit kurzem ist er geschieden. Und zu allem Überfluss hat seine Tochter auch noch einen "nackten Arsch", einen Musiker ohne einen Cent Geld, als Freund - kein Zweifel, das Schicksal möchte Fabrizio sehr ärgern ...Er ist in Verona hängengeblieben. Romeo und Julia sind der Lebensinhalt, das Lebensobjekt, der Lebenssinn des studierten Anglisten geworden. In den Sommerferien arbeitet er auf den Spuren des literarischen Liebespaares als Fremdenführer sogar bis unter den Balkon der Casa di Giulietta.
"Wir Italiener," beteuert er mir gegenüber bei seinem starken Kaffee und meinen Baci di Giulietta,"können nicht mehr lieben. Mittlerweile schwant mir sogar, dass nicht einmal Romeo Julia aufrichtig geliebt hat."
He, he! Werfe ich ein, Romeo und Julia sind verklärte literarische Figuren, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, schon gar nicht mit unserer heutigen. Mir schwant, lieber Freund, du bist immer noch nicht von der Romantik geheilt.
"Mach´ dich ruhig lustig über mich. Aber in meinem Land ist mehr kaputt gegangen, als du vermutest. Dieses ganze Theater hat nichts mehr mit Kunst zu tun ... ist bloß noch Kulissenschieberei. Nichts ist mehr echt, aufrichtig, authentisch. Alles hingegen ist Farce, Phrase, hohl und billig. Unsereins hechelt einem Ideal hinterher, das es nicht mehr gibt. Ich bin traurig."
Du bist traurig, weil deiner Tochter einen Freund hat, der dir nicht passt, deine Frau dich verlassen hat und deine Mama, Gott hab´ sie selig, tot ist.
"Liebe ist Fastfood-Fickerei geworden ... sie ist nicht mehr ein Gefühl, tief und individuell; sie ist nicht mehr göttlich ..."
Ich vermute, nur Leiden ist individuell!?
"Nein, nein und nochmals nein. Wir lieben nicht mehr; und wir leben nicht mehr. Wir spüren unsere Lebendigkeit nicht mehr. Wir Italiener sind deutsch geworden: Wir leben, um zu arbeiten ... wir sind Monaden, Ameisen geworden. Einen letzten Impuls von Lebendigkeit spüren wir nur noch in dem, was euphorisch, nein, euphemistisch als Liebe bezeichnet wird. Eine ekstatische Steigerung. Einen Rausch. Eine Flucht aus dem Alltag. Deshalb inszenieren wir Liebe wie auf dem Theater, weil wir sie nicht mehr spüren geschweige denn leben ... als Beweis, dass ich lebe, werde ich zum Laienschauspieler und verkörpere verzweifelt den Liebenden - aber wen soll ich lieben!? Schau´ mich an! Ich bin alt!
Ach, Ennio (immer der Gipfel der Vertrautheit, wenn er meinen Namen auf eigentümliche Weise italienisiert), um es kurz zu machen: Alle meine Frauen haben mich verlassen, ich muss sterben ..."