Sobald ich hier mit einer Person in Kontakt trete, male ich mit jedem gelesenen Wort und gesehenen Foto ganz allein an dem Bild weiter, das ich von diesem Menschen habe. Die kurze Sekunde, die auf einem Foto aus einer ganz bestimmten Perspektive einen kurzen realen Moment des Anderen festgehalten hat, wird vor meinem geistigen Auge zu einem Film, in dem ich seine Körperhaltung sehe, sehe, wie er sich bewegt, welche Kleidung er trägt usw. Das Drehbuch ergibt sich aus den geschriebenen Nachrichten.
Ich mache das nicht bewusst und kann es nicht abstellen, es passiert einfach. Mir ist schon klar, dass das ein reiner Phantasyfilm ist. Aber ohne diese lebhafte Vorstellung würde in mir gar kein Interesse an einem realen Kennenlernen wachsen können. Und andersrum sorgt der Film dafür, manchen Kontakt auch wieder zu beenden.
Beim Kennenlernen habe ich dann allerdings nicht die Erwartung, dass er genau so sein soll, wie ich es mir ausgemalt habe. Aber auch ohne so einen Film geht es mir oft so, dass ich die reale Person beim Treffen nicht erkennen würde. Das Foto war zwar echt, aber der Mensch sieht irgendwie ganz anders aus. Im polizeilichen Erkennungsdienst wäre ich eine totale Niete. Menschen auf Fahndungsfotos könnten direkt vor mir stehen, ich würde sie nicht erkennen, wenn sie ein anders T-Shirt tragen.
Das Schreiben birgt eine großes Risiko von Missverständnissen. Oft versteht man gar nicht, was der andere eigentlich gerade ausdrücken will. Und ich habe es selten erlebt, dass jemand absichtlich etwas falsches über sich schreiben würde.
Einmal ist es mir passiert, dass ich mich in einen Mann verliebt habe, nur aufgrund des Geschriebenen. Er war unglaublich humorvoll und sehr breit interessiert und belesen, ein Freigeist. In real waren wir tatsächlich eine zeitlang zusammen. Es stellte sich dann aber heraus, dass er nur tief in sich drin diese offene und wiztige Person war. In der Realität konnte er das gar nicht leben, da war sie nicht zu sehen, diese Persönlichkeit. Er war sehr angepasst und kleinlaut. Es ist wohl so, dass man die verschiedenen Facetten eines Menschen nie alle gleichzeitig sehen kann.
So gern ich auch viel schreibe, ich versuche heute, so schnell wie möglich, ein reales Kennenlernen stattfinden zu lassen.