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Die aufregende Polizeiarbeit aus dem Fernsehen war nur der kleinste Bruchteil dessen, was ein Polizist wirklich tat. Es sei denn, er hieß Bruce Willis. Der ging nie von Haus zu Haus, befragte keine Nachbarn nach seltsamen Gestalten und mysteriösen Geräuschen, wälzte keine Akten, durchwühlte keinen Müll und observierte nicht stundenlang Verdächtige. Für diese Zwecke hatte er ›Handlanger‹.
Als Pfeiffer und Nina das Auto auf dem Parkplatz hinter dem ›White Palace‹ abstellten, hatten genau diese Helfer alles abgesperrt. Die uniformierten Kollegen klingelten an den umliegenden Häusern; die Anwohnerbefragung war bereits in vollem Gange.
»Das ist also der ›White Palace‹?« Nina stemmte die Hände in die Hüfte. Ihr Blick schweifte über den Prachtbau mit den filigranen Türmchen.
»Das war früher eine Disco«, erklärte Pfeiffer. »Eine richtig Angesagte sogar. Die Jugendlichen kamen von weit her, um sich hier zu amüsieren. Bis der Besitzer die Versicherung betrügen wollte und den ›Tanzpalast‹ einfach abgefackelt hat. Das war ein Verlust. Ich wusste nicht mehr, wo ich meine Mädels abschleppen sollte.«
Ein träumerisches Lächeln legte sich um seinen Mund und die Augen leuchteten. Mit einem Seitenblick nahm er die außerhalb des Absperrbandes lauernden Presseleute wahr. Das Lächeln verschwand so schnell, wie es erschienen war.
»Komm.« Mit großen Schritten eilte er zum Eingang am östlichen Flügel des Baus. Nina konnte ihm nur mit Mühe folgen.
Mitarbeiter der Spurensicherung liefen zu dem Einsatzfahrzeug, das direkt an der Abriegelung parkte. Mit den hochgezogenen Kapuzen der Tyvek-Anzüge erinnerten sie Nina an eine Invasionsarmee aus dem Weltall.
Sie hielt einen Kollegen fest und deutete auf die Überwachungskamera über dem Eingang. »Ist das eine Attrappe oder haben wir Bilder?«
»Wird gerade überprüft«, antworte der mit einem unfreundlichen Seitenblick. »Wir übersehen schon nichts.«
Nina sparte sich jeden Kommentar.
»Schau dir die Hyänen an«, zischte Pfeiffer.
Die Reporter hatten sie entdeckt und stürmten rufend heran.
»Mord und Sex - das garantiert steigende Auflagen. Und hier haben sie beides.«
Mühsam bahnte er ihnen einen Weg durch das enger werdende Getümmel. Abwehrend hob Nina die Hand, doch unermüdlich wurden sie beide mit Fragen bombardiert.
Pfeiffer drückte das Absperrband nieder und ließ Nina darüber steigen. Bevor er folgen konnte, stellte sich ein Fotograf ihm in den Weg und schoss eine Nahaufnahme.
Geblendet kniff Pfeiffer die Augen zu.
Ein Reporter mit gegeltem Haar drängte von der anderen Seite auf ihn zu.
»Hauptkommissar Pfeiffer! Können Sie unseren Lesern einen ersten Eindruck vermitteln?«, schrie er in das kleine Aufnahmegerät.
Pfeiffer, fast blind vom Blitzlicht, wollte ihn ignorieren. Doch dann erkannte er verschwommen einen Siegelring mit einem Adelswappen an der Hand des Reporters. Er zögerte. So ein Zufall aber auch! Ein Lächeln umspielte Pfeiffers Mund.
Für Sekunden hielt der Reporter Pfeiffers Blick stand, dann schaute er auf das Aufnahmegerät und ließ es sinken.
Pfeiffer nickte. »Na gut, Graf. Du sollst dein Interview bekommen.«
Sofort verstummte die Menge, nur das Summen und Klicken der Kameras war noch zu hören.
»Herr Graf fragte soeben, ob wir etwas zu diesem Fall sagen können.«
Er machte eine Pause. Die Reporter hielten den Atem an. Selbst die Blitzlichter erloschen.
»Wie Sie vielleicht bemerkt haben, sind wir eben erst eingetroffen. Daher haben wir bisher noch keine Möglichkeit gehabt, uns ein Bild von den Geschehnissen vor Ort zu machen. Wie soll ich da in der Lage sein, mich zu der Sache zu äußern? Also Graf, machen Sie sich nicht mit solchen Fragen lächerlich und warten Sie bis zur offiziellen Pressekonferenz. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«
Grinsend wandte sich Pfeiffer ab und ging mit einer verdutzt dreinblickenden Nina zum Eingang. Der hinter ihm ausbrechende Tumult ließ ihn kalt, obwohl verschiedene Worte keineswegs jugendfrei waren.
»Was machst du da? Was ist los mit dir?«, fragte Nina.
»Das musste jetzt sein. Mit dem hatte ich noch eine Rechnung offen.«
Nina schüttelte den Kopf. »Meinst du nicht, dass wir die noch brauchen?«
»Nein. Und wenn - die sind so erpicht auf jede kleine Information, dass sie das dafür vergessen.«
»Da lernten wir in der Ausbildung etwas anderes!«
Pfeiffer blickte zurück. Der Graf verharrte mit gebeugten Schultern und starrte ihm hasserfüllt nach.
»Da lernen wir vieles, Nina. Aber das hier, das ist die wirkliche Schule.«
Nina und Pfeiffer gingen durch das großzügige Foyer mit der goldverzierten Rezeption, vorbei an einer mit blauem Teppich ausgelegten Treppe. Ein Schild wies zu den Umkleidekabinen im Untergeschoss – die laute Musik zu dem Partybereich im Erdgeschoss. Die Bässe von Techno-Rhythmen vibrierten in Ninas Magen. Sie folgten der Musik.
Durch einen Bogen betraten sie den eleganten Tanz- und Barbereich. Lichter strahlten die sich drehende Discokugel an, die zuckende bunte Reflexe durch den Raum jagte. Hinter der hufeisenförmigen Bar fotografierte ein Techniker der Spurensicherung die benutzten Gläser.
»Kann nicht jemand die verdammte Musik abdrehen?«
Pfeiffer winkte dem Techniker, woraufhin dieser mit mürrischer Miene einige Knöpfe an der Anlage bediente und die Musik verstummte.
»Hier geht´s hoch!«, wies eine Stimme Nina und Pfeiffer den Weg zum Tatort. Zwei Spusi-Mitarbeiter mit herunterhängendem Mundschutz kamen ihnen entgegen.
»Morgen, Herbert. Wie schaut´s aus?«
»Morgen, Peter«, brummte Herbert. »Wir hatten schon bessere Leichen.«
Sein hagerer Kollege lachte. »Aber noch keine in ´nem SM-Raum.« Er bemerkte Pfeiffers Blick und räusperte sich. »Bei dem Toten handelt es sich um den Clubbesitzer, Daniel Kovacek, fünfunddreißig Jahre alt.«
Herbert wischte sich mit dem Ärmel über das verschwitzte Gesicht. »Verdammt warm. Na ja, kein Wunder, bei den Halbnackten hier.«
Pfeiffer zeigte auf die halbvollen Gläser, die an der Theke standen. »Lief die Party noch? Oder habt ihr die Musik aufgedreht?«
»Soweit ich weiß, war keine Menschenseele da, als die Besitzerin eintraf. Laut ihrer Aussage lief die Musik, Lichter und Computer waren an.«
»Sieht aus, als hätte man alles steh´n und liegen lassen«, überlegte Nina.
Herbert grinste. »Vielleicht hatte es das Opfer eilig, hochzukommen?«
Sein Kollege schmunzelte, wurde aber wieder ernst. »Nur die Kerzen von dem großen Leuchter dort auf der Theke waren gelöscht. Da wollte einer wohl auf Nummer sicher gehen, dass die Hütte nicht abbrennt.«
Er schob die schweißnasse Kapuze vom Kopf. »Oben sind wir fertig. Wir haben zwar die Kleidung und das Messer eingetütet, aber alles exakt so platziert, wie wir es vorgefunden haben. Das Erbrochene im Flur stammt laut eigenen Angaben von der Ehefrau. Zur Sicherheit haben wir noch eine Probe genommen.«
Pfeiffer nickte dankend.
Herbert wies mit dem Kopf zu Nina. »Ist die Kleine schon so weit?«
In Nina kroch die Wut hoch. »Was heißt hier Kleine?« Sie pikte ihm den Zeigefinger in den schwammigen Brustkorb. »Das lass ich mir nicht gefallen!«
Überrascht wich Herbert zurück. »Ich meine ja nur. Am Anfang ist es immer heftig.«
Nina drehte sich um und stolzierte die Treppe hinauf. Hoffentlich bemerkte niemand, wie ihre Beine zitterten.
»Na, da wünsche ich dir noch viel Spaß mit der Neuen!« Herbert klopfte Pfeiffer mitfühlend auf die Schulter und ging mit dem Hageren hinaus.
Pfeiffer holte Nina auf der Treppe ein.
»Was sollte das? Herbert hat es doch gut gemeint. Du musst nicht mit rein. Wenn Herbert das schon sagt, dann ...«
»Er hat sich über mich lustig gemacht!«
»Wie kommst du auf so was?«
»Ich habe es in seinem Blick gesehen. Er traut es mir nicht zu!«
»Das darfst du nicht persönlich nehmen.«
»Nicht persönlich?« Angriffslustig reckte sie das Kinn. »Das sagt der Mann, der eben aus persönlicher Rache die Reporter vor den Kopf gestoßen hat?«
»Das ist was anderes.«
»Wieso? Weil ich jung, blond und eine Frau bin?«
»Ja.«
Nina blieb der Mund offen stehen. »Du bist ja noch schlimmer als mein Vater!«
»Oh!«
Verdammt! Nina holte tief Luft. »Warum glauben alle Männer, nur weil ich blond bin, springe ich beim Anblick einer Maus kreischend auf einen Tisch und warte auf Rettung durch einen strahlenden Helden? Ich habe meine Ausbildung immerhin mit Auszeichnung abgeschlossen!«
»Hab ich gehört.«
»Ich möchte nicht geschont werden, hörst du? Ich habe mir den Beruf bewusst ausgesucht. Sonst hätte ich auch ...« Sie verstummte und setzte dann leise hinzu: »Wenn es mir zu viel wird, gehe ich raus. Okay?«
Pfeiffer nickte.
»Aber ich werde nicht versagen.«
2
Das Erbrochene war in den blauen Teppich vom Flur eingesickert und verströmte einen säuerlichen Geruch.
Nina schluckte.
Die eigene Frau hatte ihn entdeckt? Die arme Frau! Wenn sie nicht die Täterin war, musste sie sich schrecklich fühlen! Was, wenn sie selbst eines Tages ihren Freund Ritchy verletzt oder tot auffinden würde? Ein beklemmender Druck breitete sich in Ninas Magen aus und die Beine drohten zu versagen.
»Nina?« Pfeiffer klang besorgt.
»Alles gut.« Mühsam würgte sie die grausigen Gedanken hinunter. Mit durchgedrücktem Rücken betrat sie das schwarz getünchte Zimmer. Abrupt blieb sie stehen. Ein Gestank aus Urin, Schweiß und Sex füllte den Raum. Vermischt mit etwas, von dem sich Nina einbildete, es sei der Geruch von Angst - die des Opfers?
Kann man Angst wirklich riechen?, fragte sie sich.
Pfeiffer trat neben sie und reichte ihr ein Taschentuch, das sie sich gleich vor die Nase hielt. Er lehnte sich an einen Käfig, der rechts neben der Tür stand, und betrachtete ebenfalls in den Raum.
Trotz eingeschalteter Beleuchtung und exquisiter Ornament-Tapete wirkte das Zimmer düster und unheimlich. Kein Wunder bei dem nachgestellten Kerkerfenster links, neben dem Käfig, dachte Nina und schlang fröstelnd die Arme um sich. Es passte überhaupt nicht in den Raum, in dessen Ecke ein mannshoher silberner Kerzenleuchter für Eleganz sorgen sollte.
Einen Meter von der Wand entfernt stand ein zwei Meter hohes, hölzernes X, an dem mit festgezurrten Gliedern das nackte Opfer hing; selbst das angelegte schmale Lederhalsband war mit einer Kette am Balken befestigt. Eine Lederkappe bedeckte zur Hälfte das Gesicht. Aus dem Mund ragte die blauschwarzverfärbte Zunge.
Auf dem Boden lag wie von der Spurensicherung erwähnt, die eingetütete Kleidung. Sie wirkte wie hingeworfen, doch obenauf drapiert - ein Obstmesser.
Sorgfältig darauf bedacht, nicht in die Urinlache zu treten, besah sich Pfeiffer die Leiche.
»Die Schultergelenke sind ausgekugelt. Durch das Gewicht des Oberkörpers drückte das Halsband auf den Kehlkopf. Er ist langsam erstickt.«
»Und die Schnitte auf der Brust?«
Pfeiffer beugte sich vor und studierte die Wunden.
»Das sieht nach Buchstaben aus - S-Ü-N-D-E-R«, buchstabierte er.
»Sünder? Das hört sich nach was Persönlichem an.«
»Und damit«, er deutete auf das blutverschmierte Obstmesser, »wurde es ihm höchstwahrscheinlich eingeritzt.« Pfeiffer richtete sich auf. »Das Ganze sieht auch nicht gerade nach einem Sex-Unfall aus.«
»In der Regel wird ein Mord als Unfall inszeniert und nicht andersherum.«
»In Panik wird weit Schlimmeres gemacht«, behauptete eine klangvolle Alt-Stimme hinter ihnen.
Nina drehte sich um. Eine schlanke Frau Mitte Fünfzig in Schutzmontur lehnte am Türrahmen.
»Guten Morgen«, sagte sie und streckte Nina lächelnd die Hand entgegen. »Ich bin Rita Pekarek, Rechtsmedizinerin oder Doktor Tod, wie mich die Kollegen immer so nett nennen. Wir zwei hatten noch nicht das Vergnügen.«
Nina ergriff die Hand. »Nina Schätzlein, die Neue.«
»Ich weiß.« Die Rechtsmedizinerin sah zu dem mürrisch dreinblickenden Pfeiffer. »Hallo Peter.« Sie betonte jeden Buchstaben seines Namens.
»Hallo Rita. Lang nicht gesehen.«
Rita Pekareks Blick ruhte länger als nötig auf ihm. »Jetzt übertreib mal nicht. Gerade mal ´ne Woche.« Sie trat neben Pfeiffer und boxte ihm lachend in die Seite.
Er wich zurück. »Wie geht’s dir?«
»Danke der Nachfrage. Tatsächlich fühle ich mich heute Morgen sehr lebendig; im Gegensatz zu unserem jungen Mann hier.« Geschmeidig wie eine Wildkatze schlüpfte Rita aus den Ärmeln des Schutzanzuges und verknotete sie um die Taille. »Peter, du löcherst mich heute gar nicht wegen der Todesursache? Bist du krank?« Übertrieben schwungvoll warf sie die schwarze Mähne zurück..
Pfeiffer räusperte sich. »Ich sehe keine tödlichen Wunden. Wenn er nicht gerade vor lauter Aufregung an einem Herzstillstand gestorben ist, tippe ich auf Strangulation.«
»Sehr gut, mein Lieber. Ich bin ganz deiner Ansicht. Der ersten Untersuchung zufolge ist das Zungenbein eingedrückt. Der Todeszeitpunkt liegt etwa zwischen zwei und vier Uhr. Wenn man die Kulisse hier betrachtet, könnten meines Erachtens nach Würgespiele zur Steigerung des erotischen Empfindens stattgefunden haben. Oftmals einhergehend mit anschließender Ejakulation. Die ist allerdings in diesem Fall nicht eingetreten. Ob die Situation nur ausuferte oder es zu dem Plan gehörte, kann ich anhand der Symptome nicht unterscheiden.«
»Warum sollte jemand einen Unfall als Mord darstellen«, wiederholte Nina die Frage.
Die Rechtsmedizinerin spitzte die Lippen, doch es war Pfeiffer, der antwortete.
»Ich glaube, er wurde für seine Sünden an den Pranger gestellt, und dem Mörder ist es wichtig, dass die Welt davon erfährt.«