Das Leben so, wie es ist
Eure offenen Beiträge gaben meiner Geliebten und mir einmal mehr Gelegenheit, uns in eine stundenlange fruchtbare Diskussion zur Frage Vergewaltigung und BDSM zu verlieren. Danke!
Nochmals möchte ich deutlich sagen:
1. Die Umfrage am Kopf des Threads soll
keine These beweisen, denn ich bin überzeugt, dass das gar nicht möglich wäre. Ich glaube nicht an Statistik, wenn es um tiefe Seelenzusammenhänge geht. Sie kann dazu dienen, dass wir – eben auch wir Doms – diese Zahlen einfach 'mal auf uns wirken lassen – ohne gleich zu urteilen und zu interpretieren.
2. Ich bin überzeugt, dass es
keinen allgemeingültigen Kausalzusammenhang zwischen Mißbrauchserfahrung und BDSM-Lust gibt. Ich fand die Postings erhellend, die darlegten, dass die BDSM-Lust schon
vor einer erfolgten Vergewaltigung verspürt wurde. Ich bin aber auch überzeugt, dass Mißbrauchserfahrungen bei denjenigen von euch Frauen, die sie erlebt haben, tiefe, manchmal sogar sehr tiefe Seelenspuren hinterlassen haben, die die "Färbung" eures erotischen Empfindens mehr oder weniger stark beeinflusst haben.
3. Ich bin ebenfalls überzeugt, dass wir umso mehr befriedigende und glücklich machende Lust erleben können, je größer unser
Bewusstsein über das ist, was wir da tun oder mit uns machen lassen. Insofern helfen mir – und hoffentlich auch anderen Lesern – eure Schilderungen sehr, sensibler zu werden für eure je ganz unterschiedlichen Reaktionen auf eure Mißbrauchserfahrungen.
4. BDSM lustvoll zu leben stellt schon an sich im Spiegel heutiger gesellschaftlicher Maßstäbe für viele von uns eine Schwierigkeit dar. Ich denke mir, dass für Frauen mit Mißbrauchserfahrung das lustvolle Erleben von BDSM eine noch größere Herausforderung darstellen kann. Einige von euch sind, wenn ich eure Schilderungen lese, durch diese Frage mit sich selbst positiv "durchgegangen". Das könnte ja nun wiederum anderen Frauen Mut machen, sich mit etwas weniger großen Vorbehalten ihrer eigenen Lust zuzuwenden.
@***ly betont, dass "Opfer (gewesen) sein kein Persönlichkeitsmerkmal ist". Gleichzeitig scheint mir aus ihren Äusserungen im Vergewaltigungs-Nachbarthread und anderen Äußerungen von betroffenen Frauen, mit denen ich sprechen konnte, deutlich zu werden, dass es oft eine Riesenarbeit ist, sich nach einem Missbrauch aus Opferrolle und Schuldgefühlen zu befreien. Diese Arbeit prägt natürlich die eigene Lebenserfahrung.
@****sa schildert plastisch ihre Vergewaltigung, so dass wir sie deutlich nachempfinden können. Danke, Elissa, für deine Offenheit!
"Damals habe ich mich unendlich geschämt und mich vollkommen wertlos gefühlt." – Solche Gefühle werden von vielen Frauen mit Mißbrauchserfahrung geschildert. Als mir das vor einiger Zeit klar wurde, war ich baß erstaunt, welcher scheinbar verqueren Logik Seelenbewegungen folgen:
Das Opfer fühlt sich schuldig!
So ist es aber. Und genau dieses Gefühl der Scham und Schuld verhindert oft jahrelang, sich der Mißbrauchserfahrung in Ruhe zuzuwenden und sie ggf. auch dem Partner mitzuteilen. Mir scheint es deshalb wichtig, betroffenen Frauen immer wieder Mut zu machen, den Gedanken zu denken, dass sie keine Schuld haben und sich nicht schämen müssen. Mir ist natürlich klar, dass das Gefühl, "geschändet" worden zu sein, sich nicht durch einen Gedanken aus der Welt schaffen lässt. Aber vielleicht kann ein solcher Gedanke eine Tür einen Spalt weit öffnen, durch den die Aussicht aufscheint, dass dieses Gefühl nicht lebenslang beherrschend sein muss.
Elissas Schilderung ist ein Beispiel, wie eine Vergewaltigungserfahrung über Jahre das lustvolle Ausleben devoter Neigungen verhindert hat. Sie zeigt aber auch, wie Offenheit gegenüber dem (geeigneten) Partner langsam Blockaden lösen kann.
Aus
@*******ris' Posting lese ich drei Hauptgedanken heraus:
- "Auch ist BDSM kein Auffanghort für pyschich labile Menschen." Daran schliessen SuALunaris ihren Appell an, zu Beginn einer Beziehung, in der BDSM eine Rolle spielen soll, in ausführlichen Gesprächen zu klären, ob es seelische "Untiefen" gibt, die es zu umschiffen gilt, will man keinen Absturz erleiden.
- Vergewaltigung ist kein "Auslöser" für BDSM-Lust.
- Das "Verarbeiten" einer Mißbrauchserfahrung durch BDSM ist fragwürdig, manchmal sogar gefährlich.
In der Folge beklagt
@****sa die "befremdliche Entwicklung des Threads....". Ich bitte dich herzlich, Elissa, nicht alle geposteten Sätze auf die Goldwaage deiner persönlichen Erfahrung zu legen. Das Gespräch, das wir in diesem Thread versuchen, dreht sich um ein äusserst heikles Thema – das wissen wir alle. Viele von uns sind nicht so einfach in der Lage, sich von vielen Emotionen frei zu machen, die das Thema auslöst.
Mein Gedanke ist, dass gerade bei solch' heiklen Themen wir sehr schnell Bewertungen, Be- und Verurteilungen an der Hand haben, dass genau solche Reaktionen aber nicht weiter führen. Das Beste, was wir tun können, ist
uns gegenseitig zuzuhören. Ich betone das, weil heutzutage Zuhören selten geworden ist. Es ist offensichtlich leichter, sofort eine Meinung zu haben (auch mir geht das oft so), als zuerst einmal in Ruhe zuzuhören. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir hier in diesem Thread ein wenig mehr zuhören als sonst.
Was ich eben schrieb, kann ich sofort im folgenden Posting von @****tte üben, die leider ja nicht mehr mitliest. Danette schildert zunächst, wie eine ihr bekannte Sub, die offensichtlich in ihrer Kindheit heftig traumatisiert wurde, in einer BDSM-Session einer solchen Gewalt ausgesetzt wird, dass der Gedanke nahe liegt, hier handele es sich ebenfalls um einen Missbrauch und nicht um ein lustvolles konsensuelles BDSM-Spiel. Danette fühlte sich "supersauer und betroffen", und es fiele uns sicher leicht, ebenfalls unserer Empörung Luft zu machen. Damit kommen wir aber nicht weiter. Wesentlicher schiene mir, zu klären, was denn eigentlich in dieser schrecklichen Session passiert ist. Wenn ich mich empöre, versperre ich mir tiefere Einsichten. Wie konnte es dazu kommen, dass die betroffene Sub in eine solche Situation geriet? Ich kenne sie nicht, und solange sie sich nicht äussert, traue ich mich nicht, ein Urteil abzugeben.
Die Schilderung von danette gemahnt uns allerdings an die Gefahr, dass ein BDSM-Spiel, gedacht zur Erfüllung unserer Lust, dann, wenn es die Grenzen von SSC verlässt, in etwas abkippen kann, was in die Nähe eines Missbrauchs kommt oder in Extremfällen sogar als Vergewaltigung bezeichnet werden muss.
Danette nahm die Erfahrung der betroffenen Sub zum Anlass, ihre eigene BDSM-Lust erneut zu befragen: "Seitdem frage ich mich, was machen wir Subs bzw. was mache ich, wenn ich meine Masoseite lebe, […].Ich habe mal gesagt, dass ich mir vorstelle, dass ich durch körperlichSchmerzen, die mich durchaus kicken und der gelebten demut in einer session verhindern will, dass mich nur noch einma in meinem Leben jemand auf seelischer Ebene demütigt."
Danette spürt also einem möglichen Zusammenhang zwischen psychisch traumatisierenden Erfahrungen in ihrer Kindheit und ihrer BDSM-Lust nach: ihre bewusste, bewusst herbeigeführte, Demut in einer Session könnte ein
Schutz sein, jemals wieder gedemütigt zu werden. Das erinnert mich an
@****eis' weiter oben geäusserten Gedanken: "sich mit dem Gefürchteten neu zu konfrontieren, um es dieses Mal zu BESTEHEN, den Drachen zu besiegen."
@*****cia warnt davor, sexuellen Missbrauch und Devotismus "in einem Atemzug" zu nennen. Dahinter lese ich ihre Sorge, dass zwischen beidem vorschnell falsche Ursachenzusammenhänge hergestellt werden könnten. Ich hoffe, dass den hier Schreibenden und Lesenden inzwischen wirklich klar geworden ist, dass es solche banalen Zusammenhänge nicht gibt. Das Leben ist erheblich vielfältiger.
Dennoch wagt sie die These, dass Frauen mit Mißbrauchserfahrung nur dann ihre Lust im Devotsein ausleben können, wenn die Mißbrauchserfahrung "nicht wirklich verarbeitet wurde".
Das Problem an solchen Thesen scheint mir, dass sie Frauen mit Mißbrauchserfahrungen
und devoten Lüsten das Gefühl geben,
unvollständig zu sein, da sie ja offensichtlich etwas noch nicht "verarbeitet" haben.
Drehen wir's rum: wir beurteilen eine Situation immer und notwendig von
unserem eigenen Erfahrungshorizont aus. So kann sich Morticia, falls ich sie nicht falsch verstehe, gar nicht vorstellen, wie eine Frau nach Gewalterfahrung devot sein kann. Die einzige Erklärung für Morticia ist die, dass die Gewalterfahrung eben noch nicht verarbeitet ist.
Einer der Gründe dafür, dass ich diesen Thread eröffnete, liegt darin, dass ich innerhalb meines eigenen engen Horizontes oft vorschnelle Meinungen über andere Menschen entwickle. Mich reizt es, zu versuchen, andere Menschen so zu sehen, wie
sie sind und nicht so, wie ich sie mir vorstelle. Eure bisherigen Schilderungen haben mir – und hoffentlich nicht nur mir - wieder ein Stück weitergeholfen.
stephensson
art_of_pain